Ne bis in idem im Wettbewerbsrecht

Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, nochmals belangt werden. Das gilt auch für das Einzugsgebiet der Europäischen Union und ebenso für Unternehmen. Im Wettbewerbsrecht kann es zu komplizierten Fragestellungen kommen. In zwei Angelegenheiten hat aktuell der Europäische Gerichtshof Stellung bezogen.
vom 24. März 2022
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Ne bis in idem im WettbewerbsrechtNiemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, nochmals belangt werden. Das gilt auch für das Einzugsgebiet der Europäischen Union und ebenso für Unternehmen. Im Wettbewerbsrecht kann es zu komplizierten Fragestellungen kommen. In zwei Angelegenheiten hat aktuell der Europäische Gerichtshof Stellung bezogen.
Im ersten Fall kassierte das belgische nationale Postunternehmen bpost von zwei Behörden Geldbußen. 2011 stellte die Regulierungsbehörde für den Postsektor fest, dass die von bpost ab 2010 geltende Rabattregelung gegenüber bestimmten Kunden diskriminierend sei. Sie brummte dem Postbetrieb eine Geldbuße in Höhe von 2,3 Millionen Euro auf. Ein Jahr später war diese Rabattregelung Basis für die Verhängung einer Geldbuße von gut 37 Mio. Euro seitens der Wettbewerbsbehörde. Der Vorwurf lautete: Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. 2016 hob der Appellationshof in Brüssel die erste Entscheidung auf, weil das Tarifsystem nicht diskriminierend sei.
 

Ein verhängnisvolles Telefonat

Im zweiten Fall spielt ein Telefongespräch eine wesentliche Rolle. Vertreter der deutschen Zuckerhersteller Nord- und Südzucker hatten über den österreichischen Zuckermarkt gesprochen. Der Oberste Gerichtshof in Österreich prüft gerade, inwiefern die Unternehmen gegen das österreichische und das EU-Kartellrecht verstoßen haben und will ein Bußgeld gegen Südzucker erreichen. Erwähnung fand besagtes Telefonat bereits in einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung einer deutschen Wettbewerbsbehörde. Darin heißt es, dass die beiden Unternehmen sowohl gegen Unionsrecht als auch gegen deutsches Wettbewerbsrecht verstoßen haben. Südzucker kassierte eine Geldbuße in Höhe von knapp 196 Mio. Euro.
 

Enge Voraussetzungen und Einschränkungen

Um dem Grundsatz „ne bis in idem“ Geltung zu verschaffen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: eine frühere Entscheidung ist endgültig und im ersten wie zweiten Verfahren stellen Behörden auf denselben Sachverhalt ab. Für das Wettbewerbsrecht hält der EuGH fest, dass es bei der Frage, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat entscheidend ist. Insofern besteht kein Unterschied zu anderen Bereichen. Die liegt vor, wenn es konkrete, unlösbar miteinander verbundene Umstände gibt, die entweder Freispruch oder Verurteilung bewirkt haben. Gesetze vermögen den Grundsatz ne bis in idem indes einzuschränken.
 

Anwendung auf bpost

Im Falle von bpost heißt das nun, dass der Sanktionierung wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht nicht entgegensteht, wenn gegen das Unternehmen wegen Missachtung einer sektorspezifischen Regelung bereits eine endgültige Regelung ergangen ist. Die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen setzt laut EuGH mehrere Aspekte voraus. Es muss präzise Regeln dafür geben, bei welchen Handlungen oder Unterlassungen eine Kumulierung möglich ist – und in welcher Weise die Koordinierung zwischen beiden Behörden vorgesehen ist. Außerdem müssen beide Verfahren in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt worden sein und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen muss der Schwer der begangenen Straftaten entsprechen.
 

Anwendung auf Nord- und Südzucker

Im Zuckerfall legt der EuGH fest, dass es wiederum dem neuerlichen, hier also österreichischen Verfahren nicht entgegensteht, wenn die Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedsstaates – Deutschland – in einer endgültigen Entscheidung das Verhalten der Unternehmen bereits erwähnt hatte. Diese Entscheidung der deutschen Behörde darf dabei aber nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedsstaats, also Österreich, beruhen. Das wäre hier allerdings der Fall und der Grundsatz „ne bis in idem“ greift. Wie der EuGH feststellt, steht die Anwendung der Kronzeugenregelung und die Nichtverhängung einer Geldbuße dem Grundsatz „ne bis in idem“ nicht entgegen.Bildnachweise: © Unsplash / René Ramish

Beitrag von Alexander Pradka

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