Legal Tech im Jurastudium?

Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz, Legal Design – alles Themen, die den Juristen von heute bereits beschäftigen. Das gilt zumindest für die berufliche Praxis – vor allem in Unterneh-men. Bereitet die Universität das angemessen vor?
vom 8. Januar 2022
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Ende des vergangenen Jahres sprach der unternehmensju-rist mit Prof. Dr. Breidenbach und Martin Clemm über den Status quo in der Juristenausbildung, über notwendige Verän-derungen und darüber, wie Universitäten es schaffen könnten, junge Juristinnen und Juristen besser auf die berufliche Praxis vorzubereiten. Breidenbach ist Hochschullehrer, Mediator und Unternehmer. Er leitet zurzeit die Entwicklung eines 1,5-Grad-Gesetzespakets für GermanZero, ist Gründer der new school of law und Legal-Tech-Pionier. Martin Clemm arbeitete für das Startup Alfabet, das 2013 von der Software AG gekauft wurde. Zunächst war er dort für die Vertragskonsolidierung und -digitalisierung zuständig, anschließend übernahm er die gesamte Digitalisierung der globalen Rechtsabteilung. Heute ist er General Counsel bei den Darmstädtern. Der erste Teil des Gespräches war in der Ausgabe 6/2021 unter dem Titel „Freiräume für das Unbekannte schaffen“ abgedruckt. Hier kommt nun Teil zwei. Dieses Mal steht das Thema Digitalisierung und Legal Tech im Fokus. Inwiefern fordert der Markt bereits Fähigkeiten und Kenntnisse und wie sieht das in Zukunft aus? Und wie sehr werden die Anforderungen in der Ausbildung schon bedient?

In-house Counsel: Um erst einmal den Bedarf festzustellen – wie groß ist der Stellenwert der Digitalisierung in juristischen Berufen?

Martin Clemm: Im beruflichen Umfeld ist er schon jetzt hoch. In den Unternehmen wird er bis ins Unermessliche steigen, wenn wir den Grad der Vernetzung weiter steigern. Im Wege der intensiven Vernetzung verändern sich die Art der Servicedienstleistung und die Kanäle der Servicedienstleistung. Mit der Rechtsabteilung bewegen wir uns mehr in das Business hinein. Wir wachsen aus der Rolle des Legal Service Provi-ders heraus und wandeln uns in einen Enterprise Capacity Builder. Zu den Aufgaben gehört künftig auch die Erzeugung bestimmter Fähigkeiten des Konzerns. Wir sind zugleich dafür verantwortlich, dass sie operational und regulatorisch sicher ablaufen. Um das umsetzen zu können, benötigen wir Technologie und Digitalisierung.

 

In-house Counsel: In welchem Umfang werden diese Bedarfe heute schon bedient?
Stephan Breidenbach: Meine Dekanin hat mir vor fünf Jahren erklärt, dass wir die Digitalisierung des Rechts nicht brauchen. Seitdem hat sich etwas bewegt: Wir haben regelmäßig die Legal Tech Summerschool veranstaltet. Es gibt weitere Veran-staltungen zum Thema und sogar zwei Masterstudiengänge, die sich damit beschäftigen. Aber wenn wir sehen, wie die Digitalisierung die Gesellschaft durchdringt und sich dank der von Herrn Clemm angesprochenen Vernetzung auch in Unternehmen Bahn bricht – dann reflektieren Universitäten das keinesfalls zureichend.
Clemm: Das gilt selbst für die Vorreiter am Markt. Wir reden seit Jahren darüber, dass sich das Recht disruptiv verändern wird. Aber wir wissen immer noch nicht genau, wie das ei-gentlich aussehen wird. Bei bestimmten Prozessen, die sich dafür eignen, erleben wir entsprechende Impacts. Aber den strategisch-konzeptionellen und gesellschaftspolitischen Blick vermisse ich. Selbst Impulsgeber für die Entwicklung zu sein – darauf sind die Leute nicht vorbereitet. Es ist erfreulich, dass sich einige Jüngere intensiver mit dem Thema beschäftigen und etwas auf die Beine stellen. Das ist aber deren Privatinitiative.

 

In-house Counsel: Wo Sie das gerade ansprechen: Schauen wir gerne einmal auf die andere Seite: Wie sehr interessieren sich die Menschen, die ein Jurastudium beginnen oder mittendrin sind, für diese Themen?
Breidenbach: Die ganz überwiegende Zahl der Studierenden interessiert sich für wenige Themen außerhalb dessen, was im Staatsexamen geprüft wird. Da sehe ich auch keinen Vorwurf, das ist eben sehr dominant. Ich bemerke aber, dass die Begeisterung groß ist, wenn wir es schaffen, einen Digitalisierungsworkshop unterzubringen. Deshalb habe ich einen radikalen Vorschlag: Wir schaffen 90 Prozent des reinen Wissensstoffes ab. Und konzentrieren uns darauf, wirklich juristisches Denken zu lernen.
Clemm: Ich kann es ausschließlich von der Bewerberseite her sehr gut einschätzen: Wir bekommen schon Leute, die um eine Freistellung bitten, um sich weiter um eine von ihnen entwickelte Applikation kümmern zu können. Oder es bewerben sich Menschen, die sogar ein eigenes kleines Unternehmen haben, das etwas Digitales gezaubert hat. Das irritiert mich nicht, das finde ich sehr erfreulich. Das ist aber ganz klar eine Minderheit. Ich muss tatsächlich selbst sehr intensiv nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten suchen. Was ich auf jeden Fall feststelle – und das kann als Appell verstanden werden: Diejenigen, die eine Affinität für Logik, Prozesse, Technik, Datenmodelle haben, helfen mir wesentlich mehr weiter als diejenigen, die sehr auf klassische juristische Themen fokussiert sind. 

 

 

In-house Counsel: Wenn wir jetzt einmal darüber nachdenken, wie wir das Studium der Rechtswissenschaften umbauen und zukunftsfähig machen könnten: Wie schaffen wir es, Themen wie Digitalisierung und Legal Tech oder auch künstliche Intelligenz zu integrieren? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll es ja kein eigenes Fach oder ein eigener Masterstudiengang sein, sondern das gesamte Studium begleiten.

Breidenbach: Legal Tech und Digitalisierung verlangen von Juristen mehrere Dinge: Das eine ist, in Lösungen und Pro-dukten zu denken statt in Problemaufrissen und Gutachten. Darüber hinaus verlangt es die fruchtbare Zusammenarbeit mit Fachfremden, beispielweise mit Organisationsentwicklern und Technikern. Drittens – und das ist ganz entscheidend: präziser juristisch zu denken als das bisher der Fall ist. Wenn ich etwas digitalisieren möchte, kann ich nicht unscharf sein, das verlangt höchste Präzision. Das kann ich dadurch lernen, dass ich präziseres Denken im Studium lerne. Andererseits brauche ich begleitend die digitale Perspektive. Das schließt schon einmal die Frage ein: Was wird denn aus dem, was wir gerade machen? Was passiert damit in Zukunft?
Clemm: Ich fände es wahnsinnig interessant, wenn wir mit der von Professor Breidenbach angeregten Wissensentschlackung Freiheiten schaffen, um zum Beispiel Problemstellungen in Datenmodelle, in Prozesse oder sogar User-Interfaces zu übersetzen. So lernen junge Menschen, Probleme auf der logischen Ebene zu verhindern oder zu lösen.
Breidenbach: Nehmen wir einmal das Subsumieren: Das lässt sich sehr gut in maximal sechs Monaten lernen. Warum können es die meisten erst im Examen – wenn überhaupt? Warum führen wir nicht einen Kurs ein, der „Juristische Subsumierung“ heißt? Und das lernen die Studierenden am bayerischen Wasserrecht – also da, wo kein Wissen vorhanden sein muss. Wenn die Methoden beherrscht werden, wenn diese Basics vorhanden sind, kann ich viele interessante und praxisrele-vante Fälle und Konstellationen bearbeiten, Sachverhalte zum Nachdenken vermitteln, Studierende ein Gesetz schreiben lassen. So erreiche ich Neugier, Kreativität, Freude am juristischen Arbeiten.

 

 

In-house Counsel: Müssen Jurist und Juristin künftig programmieren können?
Breidenbach: Natürlich liegt im Programmieren eine be-stimmte Art und Weise, Denken und Verstand zu schulen. Das schadet nicht. Aber: Eine Vorlesung über Java müssen sie sicher nicht besuchen, das ist ziemlich fruchtlos. Sie müs-sen nicht programmieren, sie müssen klar denken. Aus der rechtlichen Perspektive müssen sie Klarheit in Strukturen, IT-Umgebungen, organisationelle Umgebungen und Legacy-Systeme bringen können.
Clemm: Programmieren müssen Juristen auf keinen Fall. Was sie brauchen, ist eine gute Logik. Wer programmieren kann, kommt besser mit bestimmten technischen, infrastrukturellen Anforderungen an Lösungen klar. Die großen Probleme liegen aber heute beispielsweise darin, wie wir Daten aufnehmen und diese wieder zurückspielen. Eigentlich ist das juristisch kein Problem, wenn man tiefer in die Details schaut, muss man aber zusätzliche Fähigkeiten mitbringen.

 

 

In-house Counsel: Könnte sich die Situation über die kommenden Jahre ändern? Ältere Hochschullehrer gehen, jüngere kommen, die vielleicht mehr Verständnis für aktuelle Herausforderungen mitbringen?
Breidenbach: Da bin ich skeptisch. Tatsächlich brauchen wir Hochschullehrer, die bereit sind, sich von ihrer Fachhoheit ein Stück zu lösen und sich auf die Denkprozesse einzulassen. Es ist nicht so, dass es diese gar nicht gibt. Es sind aber bisher nur wenige – und mit dem Alter hat das nicht unbedingt etwas zu tun.
Clemm: Allein auf eine organische Änderung zu hoffen, weil junge Hochschullehrer nachkommen, ist keine Lösung, da würde man zu sehr der Zukunft vertrauen. Ich erwarte, dass an den eigenen Vorgaben gearbeitet wird und das Thema in Studium und Referendariat den Stellenwert erhält, der mittlerweile im beruflichen Umfeld vorherrscht. Die juristische Ausbildung muss wieder die notwendige Relevanz entwickeln. Bleiben wir einmal bei den 90 Prozent des reinen Wissensstoffes, den wir eliminieren könnten: Das betrifft die Prüfungsordnung. Das sind einschneidende Veränderungen, die nicht von selbst kommen. 

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Martin Clemm
General Counsel, Software AG, übernahm die Digitalisierung der globalen Rechtsabteilung

Das Gespräch führte Alexander Pradka

Beitrag von Elisabeth F.

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