Im Zweifel lieber einmal zu viel

Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren führten bisher oft zur Unwirksamkeit der Kündigung. Das vom Bundesarbeitsgericht hierfür entwickelte Sanktionssystem steht jedoch möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Schutzes, wie er durch die EU-Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird. Bis endgültige Rechtssicherheit besteht, sollten Unternehmen größte Sorgfalt walten lassen.
vom 13. September 2023
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Die §§ 17 ff. des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) regeln den besonderen Schutz der Arbeitnehmer bei Entlassungen im größeren Stil. Grundlage ist die EU-Richtlinie 98­/­59­/­EG. Im Weiteren sollen die Vorschriften den Agenturen für Arbeit ermöglichen, im Dialog mit Unternehmen und Betriebsräten rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, mittels derer die von der Entlassung betroffenen Mitarbeiter möglichst schnell in neue Arbeitsverhältnisse vermittelt werden. Doch der Teufel ist ein Eichhörnchen. Denn die Anforderungen des Gesetzgebers an eine Massenentlassungsanzeige sind streng, und Fehler im Verfahren führen nach bisheriger Rechtsprechung regelmäßig dazu, dass die ausgesprochenen Kündigungen keine Wirksamkeit entfalten. In der Überzeugung, § 17 KSchG unionsrechtskonform auszulegen, hat das diesbezüglich seit längerem eher arbeitnehmerfreundliche Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt die Anforderungen stetig erhöht. Viele Juristen zeigen sich darüber durchaus erstaunt. Zu diesen zählt Dr. Anne Dziuba, Fachanwältin für Arbeitsrecht in der Kanzlei Advant Beiten in München. So habe das BAG „entschieden, dass auch Arbeitnehmer in die Massenentlassungsanzeige einzubeziehen sind, die im eigentlich relevanten 30-Tageszeitraum gar nicht entlassen oder gekündigt werden“. 

 

Das meint etwa solche Arbeitnehmer, vor deren Kündigung ein Zustimmungsantrag an eine Behörde gestellt werden muss – so bei Schwerbehinderten oder auch bei Elternzeitkündigungen. „Dort lässt es das Bundesarbeitsgericht genügen, dass der Antrag an die Behörde in den 30-Tageszeitraum fällt“, sagt Dziuba verwundert, „das ist eine Entwicklung, die so meines Erachtens nicht vom Wortlaut des § 17 KSchG gedeckt ist.“ In der jüngeren Vergangenheit habe sich das Gesetz schließlich nicht geändert, „und auch die EU-Richtlinie erforderte solch immer strenger werdenden Maßnahmen nicht – wie der Europäische Gerichtshof gerade erst in seiner aktuellen Entscheidung bestätigt hat“. Demnach führt jedenfalls der Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG an die Agentur für Arbeit nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Plane ein Arbeitgeber Massenentlassungen, sei er zwar verpflichtet, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest bestimmter Bestandteile der zuvor erfolgten schriftlichen Mitteilung an den Betriebsrat zu übermitteln. Diese Pflicht wolle den betroffenen Mitarbeitern aber keinen Individualschutz gewähren, so der EuGH. Ob auch andere Fehler im Konsultations- oder Anzeigeverfahren die strenge Folge der Unwirksamkeit der Kündigung in Frage stellen, wie der Generalanwalt Ende März in seinen Schlussanträgen aufzeigte, ließ der EuGH noch offen. Jedenfalls muss ein Arbeitgeber spätestens zwei Wochen, bevor er die Anzeige bei der Agentur für Arbeit erstattet, soweit vorhanden, den Betriebsrat informieren. Ob Anzeigepflicht besteht, richtet sich nach Betriebsgröße und Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.

„EuGH-Entscheidung ist nicht überraschend“ 

 

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mehrere Verfahren zu Massenentlassungsanzeigen bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ausgesetzt. Der begrenzte in einem ersten Vorlageverfahren (Az.: C-134/22) nun die Arbeitnehmerrechte. 

 

Saskia Klug, Richterin am BAG und dessen Vize-Sprecherin, kommentiert das EuGH-Urteil.

 

Fehler im Rahmen der Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG führen in Zukunft nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung. Überrascht Sie das Urteil? 

Ob ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, ist durch das Bundesarbeitsgericht bislang noch nie entschieden worden. Der Europäische Gerichtshof hat aber im Verfahren C-134/22 auf eine Frage des Sechsten Senats geantwortet, die entsprechende Vorschrift in der sogenannten Massenentlassungsrichtlinie diene nicht dem Individualschutz der betroffenen Arbeitnehmer. Die Entscheidung folgt in weiten Teilen den Ausführungen des Sechsten Senats im Vorlagebeschluss und den Schlussanträgen des Generalanwalts. Daher ist sie nicht überraschend.

 

Steht die strenge Folge der Unwirksamkeit der Kündigung bei Fehlern im Verfahren – folgt man den Schlussanträgen des Generalanwalts – nicht prinzipiell in Frage? 

Der Sechste Senat hat nach Veröffentlichung der Schlussanträge des Generalanwalts im Verfahren C-134/22 im Mai 2023 vier Verfahren ausgesetzt, um auf Grundlage der zu erwartenden Entscheidung die Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG bestimmen zu können. In diesen Verfahren wird geklärt werden, ob die bisher angenommenen Folgen in Frage zu stellen sind. 

 

Wird das BAG seine Rechtsprechung zur Unwirksamkeit der Kündigung als Folge von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige nach diesem Urteil nun anpassen? 

In dem Verfahren, in dem der Sechste Senat das Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet hat (6 AZR 155/21), stellt sich – für das Bundesarbeitsgericht erstmalig – allein die Frage nach den Folgen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Hierbei ist der Senat an die vom Europäischen Gerichtshof vorgenommene Auslegung gebunden. Der Ausgang des Verfahrens sowie die weitere Entwicklung bleiben abzuwarten.

Wichtige Detailfragen

Sie gilt, wenn eine Firma mindestens 21 und weniger als 60 Beschäftigte hat und im Zeitraum von 30 Kalendertagen sechs oder mehr Entlassungen plant. Gleichfalls zu einer Anzeige verpflichtet sind Unternehmen mit mindestens 60 und weniger als 500 Mitarbeitern, soweit sie zehn Prozent ihrer regelmäßig beschäftigten Mitarbeiter oder mehr als 25 Arbeitnehmer freisetzen möchten. Auch Konzerne ab 500 Beschäftigten, die mindestens 30 Mitarbeitern zu kündigen gedenken, müssen dies anzeigen. Neben Kleinbetrieben davon ausgenommen sind lediglich sogenannte Saison- und Kampagne-Betriebe bei Entlassungen, die durch die Eigenart dieser Betriebe bedingt sind, weil die Saison endet oder eine Kampagne ausläuft. Dagegen besteht für Betriebe des Baugewerbes, die mit Saison-Kurzarbeitergeld gefördert werden, ebenfalls eine Anzeigepflicht bei den Agenturen für Arbeit. Weil sich eine Entlassungsanzeige nicht nachholen lässt, sollten Unternehmen umsichtig agieren. Das meint unter anderem, ausgehend vom frühesten Entlassungszeitpunkt einen Zeitraum von 30 Kalendertagen zu betrachten – und zwar in die Vergangenheit und in die Zukunft. Mit dem Rückblick lässt sich ausschließen, dass Entlassungen, die ursprünglich nicht anzeigepflichtig waren, durch neu hinzukommende im Nachhinein anzeigepflichtig werden. Neben der Anzeige im Original ist der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Betriebsratskonsultationen vorzulegen. Und dennoch: Die Unwirksamkeit der Kündigung war als zwingende Sanktion durch die Richtlinie explizit nicht gewollt, dies wurde den Mitgliedsstaaten überlassen. „Zur Verunsicherung führt aus meiner Sicht vor allem, dass der nationale Gesetzgeber von diesem Ermessensspielraum keinen Gebrauch gemacht hat“, sagt Dr. Michael R. Fausel, Partner der Kanzlei Bluedex Labour Law in Frankfurt am Main und kritisiert, er habe „offensichtlich eine klare Definition und Rechtsfolge gescheut“. So blieb es der Rechtsprechung des BAG überlassen, die Folgen herauszuarbeiten. Es schoss dabei womöglich über das Ziel hinaus. Individualrechtlichen Schutz sollte die Richtlinie – so jedenfalls die bisherige Tendenz des EuGH – nicht bieten. „Wenn aber der individuelle Kündigungsschutz gar nicht das Ziel ist, dann braucht es auch keine individuellen Sanktionen, um diesen durchzusetzen“, resümiert Juristin Dziuba. §17 KSchG soll die zügige Neuvermittlung gekündigter Arbeitnehmer sicherstellen. Flankierend begründet § 18 KSchG eine Entlassungssperre. Sie gibt den Agenturen für Arbeit genügend Vorlauf hierfür – „und das ganz ohne Individualrechtsschutz und Unwirksamkeit der Kündigung“, so Dziuba. 

 

Wie sie tendiert auch Arbeitsrechtler Fausel zu der Annahme, dass das BAG seine bisherige Rechtsprechung bei Fehlern im Anzeigeverfahren aufgeben muss: „Dafür könnte sprechen, dass es selbst eine Änderung offensichtlich für möglich hält, wie die Vorlage beim EuGH zeigt.“ Darauf wetten sollte indes keiner. „Bis hier im Detail Rechtssicherheit herrscht, wird es Jahre dauern“, prognostiziert Dziuba. So lange seien Arbeitgeber „gut beraten, die Massenentlassungsanzeige weiterhin mit der nötigen Sorgfalt zu erstellen“. Sie rät im Zweifel zu einer formal unangreifbaren Anzeige mit vorsorglicher Nachkündigung. Fausels Faustformel: „Zeit lassen, Flüchtigkeitsfehler vermeiden und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig eine solche Massenentlassungsanzeige erstatten.“ ■ Bijan Peymani

Massenentlassungsanzeige bezweckt keinen Individualrechtsschutz

Aufgrund eines offenen Vorabentscheidungsersuchens vor dem Europäischen Gerichtshof (Az.: C-134/22) hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) ein aktuelles Verfahren (Az.: 6 AZR 157/22) ausgesetzt. Geklagt hatte der Mitarbeiter eines Unternehmens ohne Betriebsrat, das bis Herbst 2020 noch 25 Arbeitnehmer beschäftigte und kurz darauf pleite ging. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens legte der zum Verwalter bestellte Beklagte den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mindestens zehn Mitarbeitern, auch dem Kläger. In der Annahme, dieser habe es nicht bedurft, erstattete der Insolvenzverwalter zuvor aber keine Massenentlassungsanzeige. Zu jenem Zeitpunkt seien im Unternehmen weniger als 21 Mitarbeiter – die Schwelle zur Anzeigepflicht – beschäftigt gewesen. Das jedoch erwies sich als Fehleinschätzung. Das in § 17 Abs. 1 KSchG für die Ermittlung der erforderlichen personellen Betriebsstärke maßgebliche Merkmal „in der Regel“ enthält weder eine Stichtagsregelung noch verlangt es eine Durchschnittsbetrachtung. 

 

Es kommt allein auf die Anzahl der Beschäftigten an, die für den gewöhnlichen Ablauf des Betriebes kennzeichnend ist. Im Einklang mit der seit 2012 erfolgten Rechtsprechung des BAG hielt das Landesarbeitsgericht Hamburg die ausgesprochenen Kündigungen deshalb mangels Massenentlassungsanzeige für unwirksam (Az.: 3 Sa 16/21). Das BAG sah sich allerdings nach Vorliegen der Schlussanträge des Generalanwalts zum Verhältnis von Anzeige- und Konsultationsverfahren zueinander genötigt, dieses und weitere Verfahren auszusetzen. Denn trotz eines Verstoßes gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Massenentlassungen in nationales Recht hatte das BAG Zweifel, ob dieser zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führt. Schließlich sähen weder Richtlinie noch das Gesetz eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. In seinem Mitte Juli gefällten Urteil im deutschen Vorlageverfahren (C-134/22) verneint der EuGH die Nichtigkeit. Die arbeitgeberseitige Verpflichtung, die zuständige Agentur für Arbeit in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen über diese zu informieren, hat nicht den Zweck, den Arbeitnehmern Individualrechtsschutz zu gewähren. Sie diene nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, der Behörde werde damit noch keine aktive Rolle zugewiesen.

Beitrag von Alexander Pradka

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