Ein Steinchen im großen Mosaik flexibler Arbeitszeiten

Alle Welt redet von New Work, Home-Office oder Workation. Starre Arbeitszeiten gehören heute häufig der Vergangenheit an. Sie sind zwar nicht neu, aber in diesem Zusammenhang wieder von Interesse: Langzeitkonten.
vom 21. November 2023
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Noch nie haben sich Arbeits- und Arbeitszeitmodelle so rasant verändert. Und noch nie gab es so viele variable und flexible Gestaltungsmöglichkeiten wie heute. Die Pandemie hat das ihrige dazu beigetragen, traditionelle Strukturen aufzubrechen. Ortsunabhängige und zeitlich flexible Arbeitsmodelle haben bewiesen, dass sie funktionieren. Und die vielen Möglichkeiten digitaler Kommunikation schaffen neue Formen der Zusammenarbeit. Mit den Millennials und der Generation Z kommen nun auch junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, denen es nicht nur um materielle Werte geht, sondern bei denen die viel zitierte Work-Life-Balance eine große Rolle spielt. Dazu verändern sich Lebenswelten: Mit einer alternden Gesellschaft spielt das Thema Pflege von Angehörigen eine immer größere Rolle. Last, but not least empfehlen Krankenkassen und Arbeitsmediziner ebenfalls flexible Arbeitszeiten. Sie tragen dazu bei, Gesundheit und Wohlbefinden von Mitarbeitern zu verbessern und Stress und Belastungen zu vermindern. Das erkennen längst auch mehr und mehr Unternehmen – und nicht nur Konzerne, sondern auch Mittelständler. Die Vaillant Group ist einer dieser Mittelständler, die zu den Marktführern ihrer Branche zählen – und international aufgestellt sind. Dahinter steht noch immer ein familiengeführtes Traditionsunternehmen – mit fast 150-jähriger Geschichte. Die Wurzeln liegen im Bergischen Land, in Remscheid. Als führender Hersteller für Heiz-, Lüftungs- und Klimatechnik ist das Unternehmen heute in rund 60 Ländern der Erde unterwegs. Und es sucht nach Fachkräften. „Wer heute qualifizierte Mitarbeiter gewinnen und binden will – zumal für einen Standort wie Remscheid – der muss sich schon etwas einfallen lassen“, sagt Martin Preiss, HR Manager Labour Law & Relations bei der Vaillant Group. „Wir sehen ja, wie stark in Bewerbungsgesprächen mobiles Arbeiten und alle Arten von flexibler Arbeitszeit oder Home-Office nachgefragt sind.“ Wer als Arbeitgeber attraktiv sein will, der bietet eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen an, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter entgegenkommen. Langzeitkonten gehören dazu. Denn dabei geht es eben nicht nur um ein normales Zeitkonto, bei dem Überstunden zeitnah abgefeiert werden müssen, weil sie sonst verfallen. „Nein, wir haben im Moment noch keine Langzeitkonten im Unternehmen“, so Martin Preiss. „Aber wir sind aus der Belegschaft darauf angesprochen worden und in Überlegungen und Planungen für die kommenden Jahre.“ Dabei kamen die Anfragen und das Interesse nicht nur aus einer Gruppe von Beschäftigten – oder einer Altersklasse. „So ein Modell mit Langzeitkonten kann ja aus den unterschiedlichen Gründen attraktiv sein“, so Preiss. Nur bei einem würden die HR-Profis von Vaillant abraten: wenn jemand in jungen Jahren schon ein Langzeitkonto anlegen will, um für einen früheren Renteneintritt vorzusorgen. „Das wäre unserer Meinung nach etwas für Mitarbeiter, die den Rentenbezug schon absehen können.“

Motive sind unterschiedlich

Langzeitarbeitskonten – das ist eine komplexe Materie, bei der viele Akteure mit ins Boot geholt werden sollten, ist Martin Preiss überzeugt. „In der Vorbereitung beraten wir uns etwa mit HR, Legal, der IT, der Finanzabteilung und natürlich mit dem Betriebsrat.“ Schließlich gilt es ja auch, per Betriebsvereinbarung einen Rahmen zu schaffen. Das betrifft sowohl die Verzinsung der eingezahlten Zeit als auch den Gesundheitsaspekt. „Wir wollen ja nicht, dass sich jemand über die Maßen verausgabt, nur um möglichst viel anzusparen“. Dafür wird es, sollten die Langzeitkonten tatsächlich eingeführt werden, festgesetzte Grenzen gehen. „Wir sind immer in engem Kontakt mit dem Betriebsrat, um das bestmögliche Modell für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf die Beine zu stellen“, so Preiss. „Zu berücksichtigen wäre dabei ja auch, dass etwas die gewerblichen Beschäftigten nicht so einfach Zusatzleistungen wie etwa Boni auf ein Langzeitkonto einzahlen können.“ Und in bestimmten Top-Positionen sollte alles vorab gut abgestimmt und organisiert werden, wenn jemand etwa ein Sabbatical nehmen möchte. Die nötige Expertise, um das Modell auf die Beine zu stellen, „haben wir grundsätzlich an Bord“, ist Martin Preiss überzeugt. „Wir sind in Digitalisierungsprozessen gut aufgestellt und planen langfristig.“ Daher kann sich der Arbeitsrechtler auch gut vorstellen, dass Modelle mit Langzeitkonten auch für andere Mittelständler interessant sein könnten. Aber das hänge natürlich immer auch von den individuellen Bedingungen ab – etwa wie homogen eine Belegschaft ist und welche Strukturen es im Unternehmen gibt. „Ja, Langzeitarbeitskonten sind ein Baustein in der Gestaltung flexibler Arbeitszeiten“, so Dr. Burkhard Scherf, Geschäftsführer der SSZ Beratung aus Uedem. Die Beratungsgesellschaft für Arbeitszeit und Personaleinsatzplanung ist unter anderem auch dann im Einsatz, wenn Firmen Überlegungen anstellen, Langzeitkonten einzuführen. Er weiß: „Bei jüngeren Arbeitnehmern geht es tatsächlich meist um ein Sabbatical. Oft besteht der Wunsch, sich drei Monate oder ein halbes Jahr aus dem Arbeitsleben auszuklinken – für eine größere Reise oder für eine Weiterbildung oder andere private Projekte.“ Mit fortgeschrittenem Alter spielt dann das Thema Pflege eine immer größere Rolle – trotz der gesetzlich möglichen Pflegezeit. „Die Freistellung ist nach dem Pflegezeitgesetz zwar bis zu sechs Monaten möglich, wird ja aber vom Unternehmen nicht bezahlt. Deshalb ist sie nicht für alle Mitarbeiter überhaupt umsetzbar“, sagt Scherf. Langzeitarbeitskonten bieten daher eine Möglichkeit, für diese Fälle vorzuarbeiten. Solche Modelle sind in Großunternehmen machbar und auch schon Bestandteil von Tarifverträgen, wie in der Chemiebranche. Sie kommen aber auch in kleineren und mittleren Firmen zum Einsatz. Dabei sind Langzeitkonten immer eine „Kannleistung“ für alle Arbeitnehmer, lediglich mit der Ausnahme des geschäftsführenden Inhabers. Aber einen gesetzlichen Anspruch oder Vorgaben gibt es eben nicht. Deshalb werden in einer individuellen Betriebsvereinbarung unter Einbeziehung der Mitarbeitervertretung Rahmenbedingungen festgelegt. Da geht es unter anderem auch um Regelungen für die Insolvenzsicherung. Was passiert mit angesparten Zeiten, wenn das Unternehmen schließen muss?

Vor- und Nachteile von Langzeitkonten:
 
 
PRO

• Flexible Arbeitszeitmodelle erhöhen die Attraktivität von Arbeitgebern.

• Unternehmen und Arbeitnehmer können Arbeitszeiten besser an konkrete Situationen anpassen – etwa bei 

geänderter Lebensplanung. Zufriedene Mitarbeiter sind oft motivierte Mitarbeiter. 

•Für Unternehmen entfallen Überstundenzuschläge und Gehaltszahlungen bleiben konstant.

•Bestimmte Geldwerte wie Bonuszahlungen können, je nach Vereinbarung, dem Zeitwertkonto gutgeschrieben werden – das erhöht die Flexibilität. 

 
CONTRA

• Firmen können Langzeitkonten grundsätzlich mit allen unbefristet beschäftigten Mitarbeitenden vereinbaren, egal ob Vollzeitkraft oder Teilzeitkraft. Allerdings sind oft immer noch Frauen in Teilzeit beschäftigt. Bei einer verminderten Stundenzahl ist es ihnen oft nicht möglich, Arbeitszeit anzusparen. 

• Es kann zu Konflikten bei der konkreten Inanspruchnahme des Zeitguthabens kommen: etwa, wenn es aus 

betrieblichen Gründen Einschränkungen gibt. 

• Eine Verzinsung des Guthabens geschieht nicht automatisch wie bei einer Bank, sondern muss festgelegt und eventuell angepasst werden. 

• Beim Wechsel des Arbeitgebers kann ein Mitarbeiter beim neuen Arbeitgeber eine Übernahme des bestehenden

Langzeitkontos beantragen, aber der neue Arbeitgeber muss nicht zustimmen.

Einführung und Umsetzung sind komplex

„Nach § 7e SGB IV ist eine Insolvenzsicherung vorgeschrieben. Daraus entstehen eben auch Pflichten des Arbeitgebers, Wertguthaben insolvenzsicher anzulegen“, informiert Burkhard Scherf. Die Einführung und Umsetzung von Langzeitkonten ist eine komplexe Angelegenheit – und es bedarf langfristiger Planung und Anpassung – etwa an die Struktur der Beschäftigten. „Regelungen in Unternehmen mit vielen gewerblichen Mitarbeitern werden sicher anders aussehen als zum Beispiel bei einem IT-Unternehmen“. Scherf rät deshalb vor allem kleineren Firmen dazu, sich externes Know-how und Technik einzukaufen, etwa, um angesparte Zeiten auf Langzeitkonten auch transparent zu erfassen. „Im besten Fall sind solche Modelle natürlich sehr gut angepasst – aber es gibt Standardlösungen, an denen sich Firmen orientieren können.“ Letztlich hänge die Ausgestaltung – so der Fachmann – von den Zielen ab, die ein Unternehmen verfolgt. „Geht es um das Anwerben von Fachkräften und die Attraktivität als Arbeitgeber? Oder geht es um den Produktionssektor, bei dem zu erwarten ist, dass große Teile der Belegschaft nicht bis zum 67. Lebensjahr arbeiten wollen oder können?“ Was ist etwa, wenn aus einer Abteilung gleich mehrere Kollegen ein Sabbatical nehmen wollen? Wie wird die Vertretung geregelt und die Arbeit verteilt? Wie lange darf jemand denn überhaupt eine Auszeit nehmen? Wie viel Stunden in welchen Zeiträumen können und dürfen welche Mitarbeiter überhaupt ansparen? Das sind Detailfragen, die vorab genau zu klären sind, so der Personalfachmann. Und nicht zuletzt gehe es ja auch um die Frage des Wertes von angesparten Stunden. Bei Zeitwertkonten kann den Arbeitnehmern eine Verzinsung ihres Guthabens angerechnet werden. „Man könnte tatsächlich vereinbaren, dass das angesparte Guthaben eines Mitarbeiters entsprechend seiner jährlichen Gehaltsentwicklung verzinst wird“, sagt Scherf. „Das ist aber eher unüblich und auch administrativ vergleichsweise aufwendig.“ Gängiger sind entweder feste Verzinsungszusagen durch den Arbeitgeber oder aber schlicht die Weitergabe der Verzinsung aus der Wertanlage an die Mitarbeiter. Je nachdem, ob der eigene Fokus eines Unternehmens mehr auf Anwerbung von jüngeren Fachkräften oder mehr auf Vorruhestandsregelungen liege, müssten auch Modelle für Langzeitkonten angepasst sein. „Nur dann können sie wirklich ihren Zweck erfüllen und beide Seiten, Unternehmen und Arbeitnehmer, zufriedenstellen“, so Dr. Burkhard Scherf.  

■ Gabriele Müller

Beitrag von Alexander Pradka

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