Wieviel Digitalisierung braucht das Jura-Studium?

Digitalisierung kann im juristischen Kontext sicher nicht alles. Aber sie verändert, gestaltet, erleichtert. Wo wir aktuell genau stehen, wenn wir von Legal Tech, Legal Operations und Legal Design sprechen, ist umstritten. Klar ist aber, dass wir schon mitten im Prozess stecken und der Anteil wächst. Wie sehr Anspruch und Realität zusammenpassen, hat die „Digital Study“ herausgefunden.
vom 19. Februar 2022
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Insgesamt haben 3.596 Personen an der zum dritten Mal durchgeführten Erhebung teilgenommen. Diese teilen sich auf drei verschiedene Zielgruppen auf: 1.544 sind Studierende der Rechtswissenschaften, 1.540 Referendarinnen und Referendare, 512 stammen aus der Praxis und sind bereits als Anwälte oder Unternehmensjuristen tätig. Die Resultate sind Ergebnisse aus Umfragen, die vom 1. Mai bis 30. September 2021 stattgefunden haben. Im Mittelpunkt der Studie steht der aktuelle Grad der Digitalisierung in der juristischen Ausbildung. Welche Kompetenzen erachten Studierende für essenziell? Welche Formen der Wissensvermittlung und der Abfrage in Prüfungen sind erwünscht? Und wie sieht es rückblickend aus: Fühlen sich heute bereits in der Praxis

RECHT DER DIGITALISIERUNG – WAS IST DAS?

Die Digitalisierung stellt neue Anforderungen an Berufstätige und fordert andere Kompetenzen – so heißt es im OECD Learning Kompass 2030. Ein wenig ist das die Kernaussage, auf der die Digital Study aufsetzt, zumindest berufen sich die Herausgeber darauf. Und sie lässt reichlich Raum für Interpretationen. „Letztlich geht es über den reinen Wissenserwerb hinaus um die Entwicklung von Fähigkeiten, um sich an die hochvolatilen, sich verändernden und unklaren Situationen anpassen zu können. Mehr Skills als Knowledge“, erklärt Tianyu Yuan, Geschäftsführer des Technologie-Startups Codefy sowie Mitherausgeber der Studie. Das „Recht der Digitalisierung“ beschäftigt sich mit der juristischen Beurteilung und Regulierung digitaler Vorgänge und Systeme. Es ist das gesamte Recht, das auf Sachverhalte der Digitalisierung anwendbar ist. „Das kann alles Mögliche sein, zum Beispiel auch Deliktsrecht – aber eben in einer speziellen Ausprägung“, ergänzt Sandra Lühr, Projektleiterin der Digital Study. Sie liefert auch ein Beispiel: „Wer haftet, wenn ein autonomes Fahrzeug einen Unfall mit Verletzten verursacht? Der Blickwinkel ist stets: Was sagt das Recht über einen digitalen Sachverhalt aus?“ Von den befragten Studierenden sind gut 90 Prozent der Ansicht, dass dieses Recht der Digitalisierung in der juristischen Ausbildung zu wenig behandelt wird. Bei den Referendarinnen und Referendaren sind es sogar 94 Prozent. Ganz so deutlich sehen es die Praktiker zwar nicht, aber von den Rechtsanwältinnen und -anwälten sagen 62 Prozent, dass sie „viel mehr“ über das Recht der Digitalisierung wissen müssten, nur rund ein Viertel glaubt, dass der Wissensstand schon jetzt „genau richtig“ ist. Ähnlich schätzen das die Kolleginnen und Kollegen in den Rechtsabteilungen ein – 58 Prozent halten da ihr Wissen für unzureichend und lediglich 27 Prozent für genau richtig.

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„Die Digitalisierung kann dafür sorgen, dass sich Juristinnen und Juristen stärker auf die Kernaspekte ihrer Tätigkeit konzentrieren können.“

Tianyu Yuan, Codefy, Mitherausgeber der Digital Study

„Eine Prüfung soll auf das spätere Berufsleben vorbereiten. Warum soll sie dann nicht dieselben Rahmenbedingungen haben wie das reale Leben?“

Sandra Lühr, Lex Superior GmbH, Projektleitung Digital Study

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MEHR PRAXISNÄHE IN DER JURISTISCHEN AUSBILDUNG

„Legal Tech“ befasst sich mit dem Einsatz spezieller Informationstechnologie zur Durchführung juristischer Tätigkeiten. Das heißt, eine Software wurde extra dafür geschaffen, um juristische Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. „Das betrifft etwa die intelligente Dokumentenanalyse oder die Dokumentenautomatisierung juristischer Verträge“, erläutert Tianyu Yuan. Ähnlich wie das Recht der Digitalisierung vermissen angehende Volljuristen die Beschäftigung mit derartigen Themenkomplexen im Rahmen ihrer Ausbildung – bei den Studierenden sind es 92, bei den Referendaren 94 Prozent. Fast schon logische Konsequenz: 58 Prozent der Rechtsanwältinnen und -anwälte sowie Unternehmensjuristen sagen: „Für meinen aktuellen Beruf müsste ich viel mehr zum Thema Legal Tech wissen.“ In diesen Äußerungen steckt der Wunsch – oder vielleicht sogar die Forderung – nach deutlich mehr Praxisnähe in der juristischen Ausbildung. Sich nach mindestens vier Jahren Studium und zwei Jahren Referendariat in vielerlei Hinsicht nicht angemessen auf die berufliche Praxis vorbereitet zu fühlen, muss einigermaßen frustrierend sein. In diesem Zusammenhang geht es nicht einmal nur um die modernen Hype-Themen, sondern um handfeste Grundlagen für das Business: So sehen 83 Prozent der Studierenden betriebswirtschaftliche Grundlagen und Projektmanagement zu wenig in ihrer Ausbildung behandelt. Bei den Referendaren sind sogar 90 Prozent dieser Ansicht. Der Verweis darauf, dass sich diese Themenfelder außerhalb des Studiums erschließen lassen, kommt zwar oft. Das ändert indes nichts daran, dass dafür bei der jetzigen Ausgestaltung des Studiums und der Prüfungen dafür nur sehr wenig Raum bleibt. Bei aller Kritik – Sandra Lühr verweist darauf, dass sich – zumindest bezüglich der Digitalisierung – einiges tut. „Unter Federführung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen diskutieren viele Experten, wie sich die juristische Ausbildung reformieren lässt. In dem Thema ist Bewegung. Sachsen-Anhalt bietet das e-Examen bereits seit zwei Jahren mit Klausuren zwar in Präsenz, aber am Rechner mit spezieller Klausursoftware an.“ Schwerpunktbereiche wie IT-Recht würden auch schon angeboten werden. Apropos Prüfungen: Nur mehr ein Viertel der an der Digital Study teilnehmenden Studierenden möchte Klausuren nicht am Computer schreiben. 62 Prozent wünschen sich eine Recherchemöglichkeit in juristischen Datenbanken während der Klausur. Knapp über die Hälfte hält einen freien Internetzugang für hilfreich oder notwendig. Da die Prüfer die wichtigen Fälle aber ohnehin kennen und sich die meisten Examensklausuren relativ schnell in unbekannte Gefilde bewegen, ist fraglich, was dieser bringen soll. Bei den Referendarinnen und Referendaren sind die Ergebnisse zu diesen Punkten ähnlich. „Generell müssen wir aber die Frage stellen: Worauf soll Dich eine Prüfung vorbereiten? Sie soll erreichen, dass Studierende später im Berufsleben relativ rasch eine ordentliche Performance hinlegen. Dann ist die Frage leicht beantwortet, warum die Prüfung dieselben Rahmenbedingungen haben sollte wie das wirkliche Leben“, gibt Sandra Lühr zu bedenken. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie die Kolleginnen und Kollegen auf Unternehmensseite wurden zusätzlich gefragt, wie sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten Legal Operations – das heißt der ebenso effektiven wie effizienten Erbringung von Rechtsdienstleistungen – betreffend einordnen. Da schneiden letztere deutlich besser ab. Von den Unternehmensjuristinnen und -juristen glauben 34 Prozent, dass ihr Wissensstand genau richtig ist, 23 Prozent denken sogar, dass sie mehr wissen als nötig ist. Bei den Kolleginnen und Kollegen in den Kanzleien sind das nur 22 beziehungsweise 11 Prozent.

WAS BLEIBT NACH DER CORONA-PANDEMIE?

Im Hinblick auf die Digitalisierung hat die Corona-Pandemie gerade für Studierende und Referendare viele Veränderungen mit sich gebracht. Menschen, die heute im vierten Semester sind, haben zumindest sehr lange Zeit keine Präsenzveranstaltung gehabt oder eine Klausur in einem realen und nicht virtuellen Prüfungsumfeld geschrieben. Universitäten haben mehr oder weniger schnell alles auf „online“ umgestellt. Die Herausgeber der Digital Study wollten von den Teilnehmenden wissen, welche Aspekte der digitalen Lehre beibehalten werden sollen, wenn der Betrieb sich wieder normalisiert. Die Antworten fallen vorhersehbar aus: 81 Prozent wollen weiterhin digitales Lernmaterial nutzen, 45 Prozent wünschen sich Videoaufzeichnungen der Vorlesungen, die gleiche Anzahl geht noch einen Schritt weiter und denkt an einen Live- Stream – womit wir der hybriden Lehre näherkommen würden. Mehrfachantworten waren hier ausdrücklich gewünscht und das sind die Top-drei-Antworten. Interessanterweise sind die Antworten fast gleich bei den Arbeitsgemeinschaften – wo eigentlich der persönliche Austausch mit Kommilitonen und AG-Leitern wichtiger erscheint als in Vorlesungen. Quasi als Resümee dient die Abschlussfrage der Studie – nehmen die Teilnehmenden die Digitalisierung als Chance oder Bedrohung wahr? Sowohl im Hinblick auf Studium und Referendariat, als auch später für das Berufsleben sehen sie die Digitalisierung eindeutig als Verbesserung. Die Zustimmungswerte liegen hier in allen Gruppen – teilweise deutlich – jenseits der 90 Prozent. Ein Allheilmittel ist die Digitalisierung sicher nicht und sie kann gerade im juristischen Arbeiten die Vorzüge des persönlichen Austauschs nicht ersetzen. „Sie kann aber entscheidend dafür sorgen, dass Juristinnen und Juristen sich auf die Kernaspekte ihrer Tätigkeit konzentrieren können, weil sie an den Stellen, die standardisierbar sind, wo eigentlich nur monotones Abarbeiten stattfindet, unterstützt. Sie muss ein Werkzeug bleiben, ein Mittel zum Zweck. Richtig eingesetzt, schafft das im Übrigen Freiräume für andere Dinge: Insbesondere Unternehmensjuristen können dann intensiver in wichtige strategische Prozesse einbezogen werden und würden einen ganz anderen, aktiveren Beitrag leisten als zuvor in der Rolle als reiner Dienstleister“, so Tianyu Yuan.

„POSITIVE ASPEKTE NACH DER PANDEMIE BEIBEHALTEN“

„POSITIVE ASPEKTE NACH DER PANDEMIE BEIBEHALTEN“

 

Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Privatrecht, Universität Passau

 

Die schnelle Reaktion vieler Fakultäten auf die Pandemie hat die Digitalisierung der juristischen Ausbildung um große Sprünge vorangebracht. Wenn nun die Lehre in den Präsenzbetrieb zurückkehrt, sollten die positiven Aspekte davon nicht aufgegeben werden: Vorlesungsaufzeichnungen zum späteren asynchronen Nachlernen sollten auch im Präsenzbetrieb ebenso Standard werden wie interaktive digitale Unterrichtsmaterialien. Auch Open-Book-Klausuren können ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung bleiben.

PROF. DR. CHRISTOPH BUSCH

Geschäftsführender Direktor des European Legal Studies Institute der Universität Osnabrück

Die Digitalisierung bringt neue Geschäftsmodelle hervor und schafft zugleich neue Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung durch Recht und Technik – ‚Law and Code‘. Darin liegt eine doppelte Herausforderung: Innovationsregulierung und Regulierungsinnovationen. Eine zukunftsorientierte juristische Ausbildung muss beides im Blick haben und Juristinnen und Juristen von morgen auf die Arbeit in hybriden Systemen aus Recht und Technik vorbereiten.

Alexander Pradka

Beitrag von Alexander Pradka

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