Wieviel kollektiver Rechtsschutz gut tut, wird unterschiedlich beurteilt. In den USA etwa sind Sammelklagen weit verbreitet. In Deutschland gibt es seit 2018 mit der Musterfeststellungsklage zwar ein Instrument, das in diese Richtung geht, eine der Class Action vergleichbare Sammelklage existiert jedoch nicht. Mit der neuen Abhilfeklage wird nun im Zuge der Umsetzung der EU-Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher auch in der Bundesrepublik mehr kollektiver Rechtsschutz möglich sein. Allerdings endete die Umsetzungsfrist im Dezember 2022, die EU-Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Zum Redaktionsschluss lag der Gesetzesentwurf vor, der am 29. März 2023 im Kabinett beschlossen wurde und sich nunmehr im parlamentarischen Verfahren befindet. Die Erste Lesung im Bundestag fand am 27. April statt, eine Sachverständigenanhörung ebendort am 10. Mai. Dr. Marco Buschmann zeigte sich Ende April anlässlich der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs überzeugt: „Die neue Abhilfeklage ist ein Gewinn für alle Beteiligten. Es hilft Verbraucherinnen und Verbrauchern, ihre Ansprüche effektiv geltend zu machen: Sie müssen künftig nicht mehr zwei Klageverfahren zur Durchsetzung ihrer Ansprüche führen.“ Verbraucherverbände könnten mit der neuen Abhilfeklage direkt auf die Erfüllung von Verbraucheransprüchen klagen. Auch die Firmen profitierten: Kleine Unternehmen könnten genau wie Verbraucher ihre Ansprüche zu einer Abhilfeklage anmelden, so der Bundesjustizminister. „Gleichzeitig erhalten Unternehmen, wenn sie verklagt werden, größere Rechtssicherheit. Sie wissen nun frühzeitig, woran sie sind und um wie viele Ansprüche in welcher Höhe es im Verfahren geht.“ Zugleich würde die Justiz entlastet: Gerichte müssten sich nicht mehrfach mit denselben Konflikten befassen, das ermögliche ein effektiveres Arbeiten. „Das größte Novum an der Abhilfeklage ist, dass nun in zivilrechtlichen Ansprüchen erstmals kollektiv auf Zahlung geklagt werden kann“, unterstreicht Dr. Manuela Martin, Rechtsanwältin und Partnerin bei Ebner Stolz in Stuttgart. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei, dass Gerichte die Nicht-Vorlage von Beweismitteln nun durch (mehrfache) Festsetzung von Ordnungsgeld sanktionieren und somit die Vorlage letztlich erzwingen‘ können. „Nach den bisherigen Regelungen der ZPO führte die Nichtbefolgung der gerichtlichen Vorlageanordnung lediglich dazu, dass der Sachvortrag der betreffenden Partei als unsubstantiiert gewertet oder im Rahmen der Beweiswürdigung durch das Gericht nachteilig berücksichtigt wurde“, so Martin. „Die Tendenz zur Verschärfung von Beweisregeln findet sich vermehrt auch im europäischen Recht.
„Ich erwarte eine große Bandbreite von Streitigkeiten, für die die Abhilfeklage interessant ist, etwa bei Datenschutz, Miete und Fluggastrechten.“
Dr. Rupert Bellinghausen
Rechtsanwalt und Partner,
Linklaters
Auch kleinere Schäden einklagen
Im Entwurf der neuen Produkthaftungsrichtlinie ist zum Beispiel sogar eine Fehlervermutung vorgesehen, das heißt der Beklagte verliert den Prozess, wenn er einer Vorlageanordnung nicht entsprechend nachkommt.“ Vermehrt könnten durch die neue Klage künftig kleinere Schäden eingeklagt werden. „Das ist bisher zu aufwendig und könnte dazu führen, dass Entwicklungen am Markt besser reguliert werden.“ Die diskutierte Hürde von mindestens 50 betroffenen Verbrauchern hält Martin für angemessen: „Schließlich bedarf es auch Ressourcen bei den Unternehmen, um sich gegen Abhilfeklagen zu verteidigen.“ Diskutiert wird darüber hinaus der Termin des Opt-ins, das heißt bis wann die Verbraucher ihre Ansprüche im Verbandsklageregister anmelden müssen. „Bei der Frist ist die Planbarkeit auf beiden Seiten wichtig. Der derzeitige Entwurf sieht vor, dass Verbraucher ihre Ansprüche bis zum Ablauf von zwei Monaten nach dem ersten gerichtlichen Termin zur Eintragung ins Verbandsklagenregister anmelden können“, sagt die Anwältin. Das sei bereits eine verbraucherfreundliche Lösung, da nach dem ersten gerichtlichen Termin bereits eine Tendenz des Gerichts erkennbar sein kann. „Wenn noch bis zum Ende der mündlichen Verhandlung oder sogar danach – wie teilweise auch gefordert wird – ein Opt-in möglich ist, halte ich das für zu verbraucherfreundlich und aus Sicht der betroffenen Unternehmen für nicht tragbar“, so Martin weiter. „Ich befürchte, dass durch ein derart spätes Opt-in Klagewellen ausgelöst werden könnten, die am Ende sogar zu Insolvenzen führen, wie es beispielsweise beim japanischen Autozulieferer Takata im Zusammenhang mit dem weltweiten Rückruf von Airbags der Fall war.“ Offen ist die Auslegung von „gleichartig“. „Wenn das so bleibt, bedarf es für die Auslegung einer obergerichtlichen Entscheidung“, erwartet Martin. „Im Moment ist beispielsweise noch unklar, ob dafür ausreicht, dass es sich um denselben Hersteller handelt. Es ist aber davon auszugehen, dass die Gerichte die Gleichartigkeit anfänglich erst einmal großzügig auslegen werden, da sie – aufgrund der Zielrichtung des Gesetzes – bestrebt sein werden, dass die Abhilfeklage zur Anwendung kommt.“ Martin geht davon aus, dass das Prozessrisiko für die Unternehmen zumindest erst einmal steigt. „Es wird noch leichter werden, zu klagen, da die Verbände die Klage finanzieren und sich der betroffene Verbraucher lediglich anmelden muss.“ Ob das dann verbraucherseitig auch so genutzt wird oder die Klageindustrie lieber auf Einzelklagen setzt, sei aktuell noch nicht vorherzusehen. Denkbar sei ebenfalls, dass der Drang die neue Klageform auszuprobieren, zunächst sehr groß ist, und auch deshalb die Anzahl der Klagen steigt. „Dann hängt es davon ab, wie es läuft, wie erfolgreich diese Klageart ist, ob der Anteil der Individualklagen dadurch sinkt“, so Martin.
Große Bandbreite von Streitigkeiten
Dr. Rupert Bellinghausen, Rechtsanwalt und Partner bei Linklaters in Frankfurt am Main, hält jedenfalls die Zahl von jährlich 15 kollektiven Abhilfeklagen, wie es vom Bundesjustizministerium geschätzt wird, für sehr konservativ. „Nachdem sich das Ministerium bei der Musterfestestellungsklage verschätzt hat, ist es nun viel vorsichtiger. Aber man sieht ja, wie einfach sich Gruppen digital solidarisieren.“ Beim Datenschutz und bei AGBs gebe es viel Empörungspotenzial, das sich dann über soziale Netzwerke entfalte. „Da findet sich dann schnell ein Verband oder es finden sich neue Verbände, die es sich zum Geschäftsmodell machen, dass Verbraucher völlig risikolos klagen können“, sagt Bellinghausen. „Ich erwarte eine große Bandbreite von Streitigkeiten, für die die Abhilfeklage interessant ist, etwa bei Datenschutz, Miete und Fluggastrechten.“ Gut geeignet sei sie auch in Fällen, in denen es um nicht so hohe Summen geht, wie der erheblichen Anhebung der Einmalzahlung des Abos ohne vorherige Zustimmung der Nutzer beim Sport-Streaminganbieter Dazn und bei der Frage der anteiligen Erstattung des jährlichen Mitgliedsbeitrags beim Datingportal partnersuche.de im Fall der vorzeitigen Vertragskündigung.
„Aus meiner Sicht ist im Entwurf ein fairer Interessenausgleich zwischen
dem berechtigten Interesse der Verbraucher und den Unternehmen.“
Dr. Manuela Martin
Rechtsanwältin und Partnerin,
Ebner Stolz
Ressourcen schonen, Effizienz steigern
Hätte es die Regelung beim Dieselskandal schon gegeben, wären nach Einschätzung von Bellinghausen Massenklagen und eine Überschwemmung der Justiz jedenfalls zu einem erheblichen Teil verhindert worden. Zudem sollte die Möglichkeit Einzelverfahren auszusetzen verbessert werden und eine große Sammelklage müsste immer Vorfahrt haben, sodass sie schneller beim BGH entschieden wird. „So dauert es Jahre, bis die Verfahren beim BGH liegen.“ Die im Entwurf vorgesehene erstinstanzliche Zuständigkeit der OLGs hält der Anwalt für richtig: „Die Qualität ist höher und die Richter sind erfahrener und die Verfahren schneller beim BGH.“ Allerdings sieht Bellinghausen auch einige Nachteile: „Von amerikanischen Verhältnissen und einer Klageindustrie würde ich nicht sprechen, schon weil bei uns nicht im Namen von Betroffenen geklagt werden kann, die sich gar nicht für eine Teilnahme entschieden haben. Wichtig ist auch, es den Verbrauchern nicht zu einfach zu machen, für jeden Ärger in den sozialen Medien einen Verband und damit einen Klageweg zu finden. Deshalb ist es richtig, dass hohe Anforderungen an die Verbände etabliert werden, und der Einstieg von Prozessfinanzierern nicht so leicht ist.“ Ebenso wie Martin kritisiert Bellinghausen die lange Frist des Opt-ins: „Es ist ein Kernprinzip des deutschen Rechts, dass Ansprüche verjähren, wenn sie nicht im Rahmen von angemessenen Fristen geltend gemacht werden. Es darf nicht so leicht sein, dass man sich Jahre später noch einklinken kann. Hier braucht es ein Mindestmaß an Verantwortung, sonst wird es für Unternehmen unkalkulierbar.“ Mindestens 50 Verbraucher und ein seit mindestens einem Jahr im Vereinsregister eingetragener Verbraucherverband sind weitere Hürden, die diskutiert werden. „Ich halte diese Anforderungen für richtig. Die Abhilfeklage ist nicht für unwirksame AGBs eines lokalen Unternehmens gedacht, von denen drei Kunden betroffen sind“, unterstreicht Bellinghausen. Wichtiger seien die großen Fälle, etwa Handyanbieter, die nach wenigen Jahren kein Softwareupdate mehr anbieten. „Da kann man einiges bewirken.“