“Die juristische Denkweise muss sich neu definieren”

Ganz unabhängig von der Frage, ob der brutale und völkerrechtswidrige Angriff von Putins Russland auf die Ukraine angesichts der Ereignisse 2008 in Georgien, später in Syrien und 2014 auf der Krim, und zuletzt aufgrund des monatelangen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze vorhersehbar war oder nicht: Mit Kriegsbeginn am 24. Februar erleben wir eine Zeitenwende. Corona gerade mehr oder weniger im Griff, stehen Unternehmen vor wieder neuen Herausforderungen aufgrund einer weltumspannenden Krise.
vom 8. Mai 2022
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Frau Andert, Sie haben einmal gesagt, unser Rechtssystem braucht ein neues Interface. Was ist damit gemeint?

 
Alisha Andert: Unser Rechtssystem ist sehr gut wegen vieler präziser Regeln und logischen Verknüpfungen. Es steckt viel Komplexität darin, aber auch Genialität. Ich bin ein großer Fan des Bürgerlichen Gesetzbuches, das dafür vielleicht das beste Beispiel ist. An der Schnittstelle zum Nutzer haben wir allerdings Verbesserungspotenzial. Wenn wir in der Programmiersprache bleiben: Das Rechtssystem ist wie ein Backend, dass erstklassig funktioniert. Aber es können nur Juristen damit umgehen, die den Code verstehen. Und selbst für die wird es immer komplexer. Diejenigen, die eine bestimmte Regelung betrifft, verstehen es gar nicht mehr. Und an dieser Schnittstelle, an diesem Interface müssen wir arbeiten, Komplexität reduzieren, die Übersetzungsarbeit und die Anwendung rechtlicher Lösungen in Form von klaren Prozessen, effektiver Kommunikation und digitalen Anwendungen verbessern. Letzen Endes geht es darum, dass wir eine höhere Benutzerfreundlichkeit erreichen. Wir steuern aber gerade in die andere Richtung.

Was bedeutet für Sie Erfolg?

 

Alisha Andert: Was das für mich heißt, habe ich als Juristin schon einmal brav definiert: Für mich persönlich bedeutet Erfolg, dass mir die Dinge, um die ich mich bemühe, gelingen. Das ist im privaten Kontext wie im beruflichen Umfeld gleich. Wichtig ist mir außerdem die richtige Balance: Wenn ich feststelle, dass all meine Lebensbereiche stattfinden und sichtbar sind, ist das für mich Erfolg – und das klingt leichter als es ist. Gerade als Selbstständige ist es sehr schwierig, das hinzubekommen.

Wie begegnen Sie diesem Phänomen?

 

Alisha Andert: Designorientierte Arbeit läuft viel über Reflexion und Feedback. Methoden wie Design Thinking und Scrum, die auf iteratives Arbeiten ausgerichtet sind, lassen sich sehr gut auch für die persönliche Weiterentwicklung nutzen. Sich anzuschauen, was gut gelaufen ist und was nicht und Action Points daraus abzuleiten, ist sehr hilfreich. Dazu nehme ich das Feedback von Leuten, die mir wichtig sind, daraus ergibt sich ein Gesamtbild. Ein Rat an mich selbst ist, öfter mal ‚Nein‘ zu sagen. Das fällt mir schwer, da mich viele Dinge begeistern.

Was sind für Sie wichtige Themen im Rechtsmarkt?

 

Alisha Andert: Ich blicke auf den Rechtsmarkt immer als Ganzes und nicht isoliert. Neben der Schaffung des nutzerfreundlichen Interfaces für rechtliche Lösungen sehe ich die Digitalisierung der Ziviljustiz. Wie schaffen wir es, dass das nicht genauso eine Katastrophe wird wie die Digitalisierung der Verwaltung? Und wie schaffen wir es darüber hinaus, im Koalitionsvertrag positionierte politische Ziele umzusetzen – ein Stichwort ist das angestrebte Online-Verfahren. Mit Blick auf Unternehmen und Kanzleien stelle ich fest, dass die Nachfrage nach Stand-Alone-Lösungen sinkt. Der Weg führt zu maßgeschneiderten, ganzheitlichen Lösungen und die spannende Frage, wie sich diese in die bestehende Unternehmensoder Kanzlei-IT integrieren lassen. Anbieter werden sich an diese Entwicklungen anpassen müssen. Außerhalb dieser Tech-Themen sehe ich in der Verwirklichung echter Diversität eine wichtige und große Herausforderung. Da sind wir noch lange nicht an dem Punkt, an dem wir sein müssten. Vor Jahren war ich noch gegen jede Quotenregelung. Heute sehe ich darin eine effektive Möglichkeit das umzusetzen, es braucht diesen Trigger, was schade ist.

Ihre Ausführungen bringen mich zu einem weiteren Zitat von Ihnen:
Innovation gibt es ohne Frauen nicht. Was steckt hinter diesem Spruch?

 

Alisha Andert: Innovationen entstehen dann, wenn unterschiedliche Perspektiven, verschiedene Disziplinen, diverse Sichtweisen zusammenkommen und zusammenwirken. Und das gibt es nicht, wenn die Hälfte der Weltbevölkerung nicht dabei ist. Innovation braucht verschiedene Strömungen, die stete Erweiterung des Horizonts. Ich bin davon überzeugt, dass es dafür Frauen braucht. Aber nicht, weil sie per se innovativer sind, sondern die andere Sichtweise mitbringen.

Ihr unternehmerischer Schwerpunkt liegt auf Legal Design. Wer sollte sich aus Ihrer Sicht damit beschäftigen?

 

Alisha Andert: Wenn Sie mich so fragen, dann alle Juristinnen und Juristen (lacht). Legal Design ist primär eine nutzerorientierte Problemlösungskompetenz und erst im zweiten Schritt etwas Gestalterisches. Damit einhergeht eine agile Arbeitsweise, ein inspirierendes Vorgehen mit vielen Feedbacks und einer permanenten Weiterentwicklung. Bevor ich zu einer Lösung springe, analysiere ich erste einmal das Problem. Eigentlich ist das sehr nahe an der Grundidee der juristischen Arbeit. Ganz oft gehen Juristinnen und Juristen aber gerade so nicht vor. Insbesondere in Digitalisierungsprojekten wird zu häufig vom Tool gedacht und nicht vom eigentlichen Bedarf.

Die Visualisierung und Präsentation sind dennoch wesentliche Bestandteile von Legal Design. Stellen wir Verträge, Gesetze künftig vielleicht als Comic dar?

 

Alisha Andert: Wir müssen zunächst sehr genau schauen, wo die Vereinfachung über Visualisierung möglich ist. Comics sind eine besonders mutige Form der Darstellung. Wir brauchen natürlich Rechtssicherheit. Aber es ist möglich, Visualisierungen und Gestaltungen zusätzlich zur gerichtsfesten Fassung zu nutzen. Wir behalten den komplexen Vertrag im Backend, schaffen aber zusätzlich den Content, den jeder verstehen und damit auch langfristig verinnerlichen kann. Einen Hinweis liefert der BGH, der Banken die Wirksamkeit ihrer AGB abgesprochen hat, weil sie einfach nicht mehr zu erfassen sind. Mit einem visuellen, zugänglichen Design könnten wir vieles so verständlich gestalten, dass es dadurch erst gerichtsfest wird. Juristinnen und Juristen müssen lernen, pragmatischer zu kommunizieren.

EINBLICKE …

Persönliches

 

Wo trifft man Sie, wenn Sie gerade nicht bei der Arbeit sind? Was machen Sie privat gerne?

 

Zunächst einmal ist Ausschlafen für mich ganz wichtig. Vor zehn Uhr trifft man mich nirgendwo an (lacht). Ich bin ein großer Fan der Berliner Kulinarik, wir haben eine sehr diverse und tolle Auswahl. Ich koche selbst sehr gerne, es gibt Tage, da starte ich mit meinem Freund mit dem Marktbesuch und dann zieht sich die Zubereitung den ganzen Tag. Dazu ein guter Wein, das ist Lebensgefühl. Ich mache außerdem gerne Sport und versuche viel Zeit mit den liebsten Menschen zu verbringen.

 

Welche Musik hören Sie gerne?

 

Am liebsten ist mir R’n’B. Früher habe ich auch sehr viel HipHop gehört, das ist ein bisschen weniger geworden. Und ich weiß, es ist ein wenig eine „unpopular opinion“, aber tatsächlich mag ich Popmusik.

 

Welches Buch lesen Sie gerade?

 

Gerade fertig geworden bin ich mit „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. Neu angefangen habe ich mit „Corpus delicti“ von Juli Zeh. Ich muss aber zugeben, dass Podcasts eher mein Medium sind, da bevorzuge ich die True Crime Stories.

 

Den perfekten Tag gibt es nicht. Was ist ein nahezu perfekter Tag für Sie?

 

Da halte ich es mit Harald Juhnke – keine Termine und leicht einen sitzen (lacht). Im Ernst: Das oben schon beschriebene Lebensgefühl mit Ausschlafen, auf dem Markt schon Freunde treffen und Zeit verbringen, gemeinsam kochen und bis in die Nacht bei einem guten Wein einen lebendigen Austausch pflegen, das kommt der Perfektion schon sehr nahe.

ALISHA ANDERT

 

Alisha Andert ist Mitgründerin der Innovationsberatung „This is Legal Design“ und lebt und arbeitet in Berlin. Ein Gründergen wohnt ihr nicht inne, wie sie selbst sagt, aber sie möchte den „Transformationsprozess“ in der Rechtsbranche beschleunigen und dabei gestaltend tätig sein. Unternehmen und Kanzleien zu helfen, diese Reise zu bestreiten, ist zwar anstrengend, aber auch wahnsinnig beflügelnd, sagt sie. Außerdem ist Alisha Andert aktive Podcasterin und Vorstandsvorsitzende des Legal Tech Verbands. Mit dem Netzwerk möchte sie Innovationen auf dem Markt vorantreiben. Bestimmte Innovationen brauchen moderne Gesetze und als Verband wird man eher gehört. Vor der Selbstständigkeit war sie jeweils Head of Legal Innovation bei Chevalier und Flightright. Studiert hat sie in Potsdam, das Referendariat absolvierte sie in Berlin. Ihre Ausbildung führte sie außerdem an die Universität von Amsterdam und zur School of Design Thinking am Hasso Plattner Institut.

Beitrag von Alexander Pradka

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