Vorläufiges Ende einer Zitterpartie Operation Reißleine

Die EU-Entwaldungsverordnung soll erst ab 30. Dezember 2025 angewendet werden. Das gibt Herstellern, Händlern und den Erzeugerbetrieben ein Jahr mehr Zeit, um sich auf die alles andere als eindeutigen behördlichen Anforderungen vorzubereiten. Wer neben dem Wald zu den Gewinnern zählen wird, ist aber schon jetzt klar: Bambus und die Bürokratie.
vom 10. Januar 2025
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So eng war’s noch nie. Erst drei Wochen vor Heiligabend konnten sich Buchhändler, Verleger und Chocolatiers innerlich gelöst auf das Weihnachtsgeschäft freuen. Bis dahin hatten die klassischen Geschenkbranchen wie auch die weniger saisonabhängigen Hersteller und Händler von Lebensmitteln, Möbeln, Lederwaren, Kartonagen oder Hundekauspielzeug befürchten müssen, im neuen Jahr mit Zwangsgeldern, Bußgeldbescheiden oder sogar Marktausschlüssen eingedeckt zu werden. Der Grund für die Sorge: Laut der Verordnung (EU) 2023/1115 über entwaldungsfreie Produkte (European Deforestation Regulation, EUDR) sollten viele Unternehmen ab dem 30. Dezember 2024 eine Sorgfaltserklärung abgeben, wonach für ihre produzierten oder gehandelten Erzeugnisse nach dem 31. Dezember 2020 kein Wald gerodet oder geschädigt wurde. Das geht einher mit den Vorschriften der Directive on Corporate Sustainability Due Diligence (CS3D, siehe In-House Counsel 6-2024). Für die gesamte Lieferkette müssen Importeure, Hersteller und Verkäufer künftig die Risiken auf Entwaldung und die Einhaltung der Rechtsvorschriften der Erzeugerländer bei der Abholzung jährlich neu bewerten und nach Möglichkeit bei der Eindämmung mithelfen. Eigentlich hätte die Verordnung nach einer Übergangsfrist von großen Unternehmen Ende 2024, von kleinen und Kleinstbetrieben ab Mitte 2025 angewendet werden müssen. Viele Hersteller und Händler waren mit ihren Vorbereitungen aber noch nicht so weit. Überdies belasten die Vorschriften die in starkem Maße von Kleinbetrieben getragene Produktion von Holz, Palmöl, Sojabohnen, Kautschuk, Kaffee, Kakao und Rindern in den Erzeugerländern. Weil die Unionsländer bei einigen Rohstoffen die Hauptabnehmer sind, kam aus Südamerika und Afrika scharfer Protest. Daher hatten sich das EU-Parlament und die Kommission bereits im Verlauf von 2024 auf eine Verlängerung der Übergangsfrist verständigt – da platzte im November eine Bombe: Kurz vor Toresschluss meldeten EVP und EKR Änderungswünsche an. Unter anderem forderten sie, für eine Gruppe von noch zu bestimmenden Ländern das Entwaldungsrisiko auf null zu setzen. Für Importeure aus den risikofreien Ländern sollten weniger strenge Anforderungen gelten. Also wurde das längst verhandelte Paket wieder aufgeschnürt und die Verordnung an den Trilog zurückverwiesen. Hersteller und Händler waren perplex: Knapp zwei Monate vor dem geplanten Starttermin war wieder völlig offen, ob es inhaltliche Änderungen geben würde und wann es losgehen sollte. In den ersten Dezembertagen zogen EU-Kommission, Rat und Parlament die Reißleine. Zwar lehnten sie die Einführung einer vierten Kategorie risikofreier Länder ab – es bleibt also bei den dreien mit „geringem“, „normalem“ und „hohem“ Entwaldungsrisiko –, aber sie gewährten der Wirtschaft ein weiteres Jahr Aufschub. Europäische Großimporteure haben jetzt Zeit bis zum 30. Dezember 2025 Zeit, Klein- und Kleinstbetriebe sechs Monate mehr, um mittels geeigneter Maßnahmen die Voraussetzungen der Entwaldungsverordnung umsetzen und damit auch ihre eigenen Risiken eindämmen zu können.

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„Die Umsetzung der Verordnung ist weitgehend Sache der Unternehmen. Für die Compliance mit der EUDR müssen die Unternehmen selbst Maßnahmen und Prozesse entwickeln.“

André Lippert

Rechtsanwalt und Partner,

CMS Deutschland

Buch mit sieben Siegeln

Denn die Liste möglicher Ordnungswidrigkeiten im Gesetz zur Durchführung der Entwaldungsverordnung ist lang, sehr lang. Im Referentenentwurf des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung, der seit Ende Oktober im Umlauf ist, umfasst der diesbezügliche Paragraf 13 stolze zwanzig Punkte. Bei Missachtung der Vorschriften drohen Bußgelder von mindestens vier Prozent des EU-Jahresumsatzes, die vorübergehende Untersagung des Inverkehrbringens, des Handels, der Ausfuhr und die Einziehung relevanter Erzeugnisse sowie der Ausschluss von Vergabeverfahren und öffentlichen Finanzhilfen. Darüber hinaus tragen die Delinquenten die Kosten für das Tätigwerden der Behörden. Was Importeure, Hersteller und Händler allerdings tun müssen, um auf der sicheren Seite zu sein, ist für viele nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. „Die Umsetzung der Verordnung ist weitgehend Sache der Unternehmen“, erklärt Dr. André Lippert, Rechtsanwalt und Partner bei CMS in Berlin. „Für die Compliance mit der EUDR müssen die Unternehmen selbst Maßnahmen und Prozesse entwickeln. Es gibt nicht nur den einen, vom Gesetz vorgesehenen Weg. Die EUDR stellt nur Leitplanken auf.“ Vielerorts rätseln Einkäufer und Juristen in den Rechts- und Compliance-Abteilungen von rohstoffimportierenden, -verarbeitenden und -handelnden Unternehmen, was zu tun ist. Der nicht immer eindeutige Wortlaut der Verordnung wirft Fragen auf. Was genau, so grübelt man zum Beispiel in Verlagshäusern, ist mit „Inverkehrbringen“ gemeint? Wenn die frisch gedruckten Bücher im Verlag ankommen? Wenn sie bei den Grossisten eingelagert werden? Oder wenn sie von dort an den Buchhandel ausgeliefert werden? Wie verhält sich die Entwaldungsverordnung zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz? (Antwort: Sie ist in mancher Hinsicht strenger.) Ist man durch Vorlage von Sorgfaltserklärungen der unmittelbaren Lieferanten aus dem Schneider? (Antwort: Nein.) Und dann natürlich der Klassiker: Fallen unsere Produkte überhaupt unter die EUDR? André Lippert hat die Faustregel: „Grundsätzlich ist alles betroffen, was ab dem 30. Dezember 2025 in der EU auf den Markt gebracht wird.“ Das hilft aber auch nur ein Stück weiter. Erst drei Monate vor dem vorgesehenen Start hatte die Kommission User Guidelines und eine überarbeitete Fassung der FAQ vorgelegt, vier Wochen später lag die deutsche Fassung vor. Ab dem 6. November konnten sich Hersteller und Händler in einer lange zuvor avisierten Online-Datenbank registrieren, um elektronisch Due-Diligence-Erklärungen an die zuständigen Behörden zu übermitteln, am 4. Dezember konnten Unternehmen erstmals in diesem System ihre Sorgfaltserklärungen hochladen. Wenn es Verleger waren, gehörten sie zu den Glücklichen, deren Vor-vor-vor-Lieferanten mit den Geolokalisierungsdaten belegen konnten, dass die Bäume, aus denen das Papier geschöpft worden war, das der Drucker für die Herstellung der Bücher verwendet hatte, die der Verlag bei ihm bestellt hatte, aus einem schadenfreien und nach Ende 2020 nicht entwaldeten Forst stammten. Und die dazu die Einhaltung der Sorgfaltspflichten einschließlich der Wahrung der Menschenrechte bei der Holzfällung und dem Transport zusicherten. Das klingt komplex. Anders jedoch dürfte es der EU kaum möglich sein, ihre mit dem Green Deal ausgerufenen globalen Ziele zu erreichen. Dem jahrzehntelangen Abholzen wertvoller Waldbestände soll unter tätiger Mithilfe unionseuropäischer Importeure ein Riegel vorgeschoben werden. Dazu sehen sich nicht nur Umweltschützer verpflichtet, sondern Umfragen zufolge die Mehrheit der EU-Bürger. Auch große Teile der Wirtschaft übernehmen Verantwortung für die Umwelt und ächten den rücksichtslosen Abbau natürlicher Rohstoffe.

Thalia GmbH | Hauptverwaltung Hagen - Aufsichtsratsitzung - Gruppenbilder & Portraits - am Donnerstag, der 05. Oktober 2023 | Geschäftsführer: Ingo Kretzschmar (Vors.) | Marcus Droste | Bettina Günther | Roland Kölbl | Corinna Offer
Vorsitzender des Aufsichtsrats: Dr. Leif E. Goeritz

„Niemand findet gut, dass ein Regelwerk in Kraft gesetzt wird,
bei dem schon im Gestehungsprozess klar wurde, dass seine Umsetzung vertagt werden muss.“

Manuel Herder

Chef des Verlagshaus Herder

Beschaffung belastbarer Informationen

Die gute Absicht hat ihren Preis. Um die Sorgfaltspflichten der EUDR zu erfüllen, müssen die Importeure und Verarbeiter von Rindern, Rinderteilen und den in der Verordnung aufgeführten Agrarrohstoffen belastbare Informationen über deren Herkunft beschaffen. Dazu werden die Geolokalisierungsdaten abgefragt. Die müssen allerdings nur in der Sorgfaltserklärung angegeben werden und nicht, wie eine Zeitlang Panik geschürt wurde, auf oder in den fertigen Erzeugnissen. Außerdem müssen die Unternehmen auf mehrere Risiken prüfen: in erster Linie auf das Entwaldungsrisiko (es muss sichergestellt werden, dass die Produkte nicht zur Entwaldung oder Waldschädigung beigetragen haben), aber auch auf die Gesetzeskonformität (die Produkte müssen nach den Gesetzen des Produktionslandes erzeugt sein), auf die Komplexität der Lieferkette (je komplexer die Lieferkette, desto schwieriger ist die Rückverfolgbarkeit und Überwachung), auf geographische Risiken (das Risikoniveau variiert je nach Produktionsland oder -region, das von der EU lange versprochene Länderbenchmarking soll bis Mitte 2025 stehen), auf Landrechtskonflikte (werden indigene Gemeinschaften benachteiligt?), auf Risiken aufgrund der möglichen Vermischung von konformen und nicht-konformen Produkten sowie auf gesellschaftspolitische Risiken wie Korruption und mangelnde Transparenz im Herkunftsland. Die Risikobewertung muss mindestens einmal im Jahr aktualisiert werden. All das treibt den Bürokratieaufwand nach oben und Firmeninhabern den Schweiß auf die Stirn. „Allen war klar, dass die Entwaldungsverordnung ein Bürokratiemonster wird“, sagt Dr. Andreas Schuler, Rechtsanwalt und Counsel im Düsseldorfer Büro von Dentons. „Es geht nämlich auch um die Artenvielfalt und die Wahrung der Menschenrechte.“ Und dann höre man ja schon einiges über den digitalen Produktpass (DPP), ein Instrument zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit, das ab 2027 kommen soll. „Der Produktpass geht zurück auf die EU-Ökodesignverordnung“, erläutert Schuler. „Er soll von Verbrauchern, Herstellern und Abfallentsorgern digital abrufbare Informationen über die Materialzusammensetzung und die Nachhaltigkeitseigenschaften von Produkten enthalten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die EUDR dafür Vorarbeit leistet.“ Wenn der Jurist richtig tippt, könnten auf Papier aus entwaldungsfreien Holzbeständen gedruckte Zeitungen und Bücher bald einen QR-Code tragen müssen, der auch Informationen nach der EUDR beinhaltet. Es ist unwahrscheinlich, aber denkbar, dass in einem Buch dann vielleicht doch der genaue Standort des Baumes angegeben sein muss, der just für dieses Exemplar zu Papier geworden ist. Auch so kann man etwas für E-Books tun. Denn Bambus, die nachhaltige Alternative zum Holz, wächst zwar extrem schnell und bindet bis zu vier Mal mehr CO2 als andere Baumarten, taugt aber nicht für die Papierherstellung. „Dass man an einem Stoppschild vor einer Kreuzung mit dem Auto halten soll, finden die meisten Leute gut“, sagt Manuel Herder, Chef des Freiburger Verlagshaus Herder, der Titel in beiden Erscheinungsformen verlegt. „Dass man den Regenwald schützen soll, auch. Aber dass mit der Entwaldungsverordnung ein Regelwerk in Kraft gesetzt wird, bei dem schon im Gestehungsprozess klar wurde, dass es so kompliziert wird, dass seine Umsetzung vertagt werden muss, das findet keiner gut.“ Es sei auch nicht gut, meint der Verleger. „Es ist ein Beispiel dafür, wie weit Parlamentarier sich von der Wirklichkeit der Arbeitswelt entfernt haben.“ Vorausschauende Unternehmen haben bereits Stabsstellen für Sustainabilty eingerichtet, in denen die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Green Deal der EU überwacht und dokumentiert wird. Beim Nahrungsmittelhersteller Nestlé fallen diese Aufgaben unter anderen Legal zu. „Für die EUDR haben wir funktionsübergreifend für Europa inklusive der Schweiz eine Task Force eingerichtet“, sagt Nestlé-Syndikusrechtsanwalt Michael Forst. „Wir unterstützen die Ziele der Verordnung. Seit über zehn Jahren ist Entwaldungsfreiheit Teil unserer verantwortungsvollen Beschaffungsstrategie, und wir hoffen, dass die EUDR auf dieses Ziel einzahlen kann.“ Aber auch Forst braucht mehr Klarheit. „Das betrifft vor allem den Datenaustausch zwischen uns, unseren Lieferanten und Kunden, also dem Handel. Auch der ist teilweise noch auf der Suche, was genau erwartet wird.“ Beispiele dafür fallen den Senior Legal Counsel sofort ein. „Welche Produkteinheiten umfasst die Sorgfaltspflichtenerklärung: Einzelne Produkte oder die gesamte Warenlieferung einer Bestellung? Und wie weit im Voraus braucht der Handel von uns die von der EUDR geforderten Daten? Wie wird das übermittelt – mit einem digitalen Anhängsel zum Lieferschein, wenn das Produkt ins Lager kommt oder bereits beim Bestellvorgang?“ All das sei operativ und logistisch noch final zu klären. Doch Forst ist zuversichtlich. „Wir werden einen praktikablen Weg finden. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

Christine Demmer

Beitrag von Alexander Pradka

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