Die deutsche Industrielandschaft verändert sich. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Eine gravierende Entwicklung ist die Energiewende in der Bundesrepublik, die verglichen mit anderen Entwicklungen, auch aufgrund politischer Entscheidungen, schneller vonstatten geht als dies früher bei anderen Einschnitten zu beobachten war. Das führt insbesondere bei energieintensiven Unternehmen zu gestiegenen Kosten und zur unvermeidlichen Frage nach der Rentabilität. „Das sehen wir zum Beispiel im Bereich der produzierenden Industrie. Produktionskapazitäten insbesondere für einfachere Grundstoffe, die bisher in Deutschland hergestellt wurden, geben Industriekonzerne ab“, berichtet Dr. Markus Söhnchen, Rechtsanwalt und Partner bei der Sozietät Görg. Das geschieht häufig in Form eines Carve-Outs, indem die Bereiche abgetrennt und verkauft werden. Neben den Folgen des Klimawandels sorgt etwa die Digitalisierung für einen wachsenden Veränderungsdruck auf Geschäftsmodelle. Unternehmen können von solchen Entwicklungen überrollt werden, das zeigen verschiedene Beispiele in der jüngeren Vergangenheit. In zu rascher Folge kommen zu viele Faktoren zusammen, die Verantwortlichen glauben zu lange, dass ein bestimmtes Geschäft erhaltenswert ist und nehmen den Trend der Zeit nicht oder nicht rechtzeitig wahr. Gleichzeitig wächst möglicherweise noch der Konkurrenzdruck und plötzlich gibt es zu viele Baustellen, die sich nicht mehr mit Rettungswirkung schließen lassen. „Vorausschauende Unternehmenslenker versuchen, frühzeitig gegenzusteuern, indem sie rechtzeitig Bereiche abstoßen, die nicht mehr ausreichend profitabel sind oder in Zukunft drohen, nicht mehr hinreichend profitabel zu sein“, sagt Söhnchen. „Damit das eine Erfolgsgeschichte wird, muss ein guter und gesunder Kern vorhanden sein, den die Verantwortlichen mit der Maßnahme stärken wollen.“ Aktuell zeigen die Entwicklungen der Weltwirtschaft, ausgelöst durch die Maßnahmen der US-amerikanischen Regierung und die Gegenmaßnahmen im Rest der Welt, Wirkung. „Es gab bisher sektorenweise Schwerpunkte, sei es im Bereich Retail, sei es im Bereich Automotive. Jetzt müssen wir uns die Frage stellen, was die aktuellen geopolitischen und geoökonomischen Entwicklungen für Auswirkungen auf andere Sektoren haben“, äußert Martina Farkas, Partnerin bei der Sozietät Linklaters, die auf Corporate/M&A-Transaktionen spezialisiert ist. „Was jetzt auf uns zukommt, weiß niemand so genau.“ Es ist eine Zeit der großen Unsicherheit, selbst im Hinblick auf kurz- und mittelfristige Strömungen. „Das löst eine hohe Dynamik aus, mit unterschiedlich wirkenden Kräften“, kommentiert Dr. Sabine Vorwerk, ebenfalls Partnerin bei Linklaters. Ihr Spezialgebiet sind Restrukturierungen. „Einerseits könnten Unternehmenslenker sagen, wir sehen ein günstiges Zeitfenster, dann werden sie versuchen, eine Transaktion in diesem umzusetzen. Andersherum lässt sich eine Transaktion strecken und hinausschieben, weil sie das noch günstigere Zeitfenster abwarten möchten.“ Sie berichtet davon, dass sogar verschiedene Gutachter, die Wertungsgutachten erstellen und Prognosen stellen, was wirtschaftlich zu erlösen ist, ihre Kernaktivitäten für einige Wochen einstellen. „Sie möchten selbst für eine gewisse Zeit den Markt beobachten, weil sie sonst – so die Aussage – nicht seriös Chancen und Risiken in ihre Bewertungen einfließen lassen können. Das ist ein Zeitraum, in dem viele sagen, dass sie im Zweifel nicht closen werden.“

„Unsicherheiten können Deals verlangsamen. Sie können
aber auch Opportunitäten schaffen und Zeitfenster öffnen.“
Dr. Sabine Vorwerk
Partnerin,
Linklaters LLP.
Verschiedene Leitszenarien
Wenn es um Carve-Outs unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen geht – gleich, welche Ursachen das hat – sind unterschiedliche Szenarien denkbar. Als Zeitraum für einen Carve-Out setzt Görg-Rechtsanwalt Söhnchen rund 18 Monate an, der im jeweiligen Einzelfall variieren wird. „Es ist einfacher gesagt als getan, aber die Planungen müssen rechtzeitig beginnen und der Business-Plan muss klar und substantiiert die Fortführungschancen beziehungsweise die Fortführungsprognose ausweisen. Im Wissen, dass es keine Zukunft gibt, ein Unternehmen oder einen Teil davon abzugeben, führt unweigerlich ins Haftungsrisiko, weil Gläubiger sagen würden, dass hier künstlich ein Sterbevorgang verlängert wurde und das abgebende Unternehmen selbst hätte abwickeln müssen.“ Bei Linklaters nehmen die Beraterinnen und Berater eine Kategorisierung der Carve-Outs in schwierigen oder sogar Krisenzeiten vor. Den Verkauf aus einer Insolvenz beschreibt Sabine Vorwerk als „Klassiker“, bei dem die Beteiligten den Rahmen des Verfahrens aufgrund gesetzlich normierter Anforderungen und damit auch die einzelnen Spielregeln kennen. Demgegenüber definiert sie zwei Leitszenarien, in dem das Agieren im Krisenumfeld losgelöst von einer Insolvenz die schwierigere Kunst ist, weil die Parameter nicht feststehen und unsicher sind. Dort entfaltet sich das Netz aus den Themen Krise, Restrukturierung und M&A voll und ganz. Erster Fall: der Mutterkonzern selbst steckt in Schwierigkeiten und will zur eigenen Konsolidierung und Stabilisierung einen gut funktionierenden und erfolgreich am Markt agierenden Unternehmensteil aus dem Gesamtkonstrukt herausschneiden. Zweiter Fall: Die Tochtergesellschaft oder der Unternehmensteil kämpft mit einer wirtschaftlichen Schieflage und die noch gesunde Mutter kann oder will den Bereich selbst nicht mehr weiterführen. „Wenn wie im ersten Fall ein Unternehmen sprichwörtlich sein Tafelsilber zu Geld machen will, um den angeschlagenen Kern des Unternehmens zu retten, wird es das unter der Voraussetzung, dass ein entsprechender Markt vorhanden ist, im Bieterverfahren machen und den Kaufpreis in die Höhe schießen lassen“, sagt Martina Farkas. Im zweiten Fall, in dem das Asset in Schwierigkeiten steckt, ist das bedeutend schwieriger. Wenn die Muttergesellschaft den von der Tochter verursachten Cash-Drain stoppen und sie loswerden will, ist auf Investorenseite der Appetit nach einem Deal nicht so groß und die Anzahl an Interessenten kleiner. „Dann besteht eine größere Herausforderung, die Umgebung und Rahmenbedingen zu schaffen, in denen potenzielle Käufer für sich genügend Synergieeffekte aus dem Erwerb herauskristallisieren und positiv prognostizieren, via Integration das Negativ-Geschäft zu beenden“, bestätigt Sabine Vorwerk. „Wobei dann Investoren stets die Frage nach den Krisenursachen stellen werden“, ergänzt Farkas. „Und sie werden sich fragen, ob und wenn ja mit welchem Aufwand sich die Manifestationen beseitigen lassen. Gegebenenfalls müssen sie selbst nochmals Geld in die Hand nehmen, um das Business in die gewünschten Bahnen zu lenken. All das kann sich auf den Kaufpreis auswirken.“

„Die Rechtsabteilung sollte bei jedem Carve-Out in einer aktiven Rolle mitwirken, Risiken erkennen und einschätzen sowie vor allem minimieren.“
Dr. Markus Söhnchen
Partner,
Görg
Verschiedene Risikokategorien
Gleich welches Szenario anzunehmen ist, die Herausforderungen bei einem Carve-Out und zusätzlich unter schwierigen wirtschaftlichen Voraussetzungen, sind immens, und es lauern an unterschiedlichen Stellen Risiken, die sich wiederum in verschiedene Kategorien clustern lassen. Zum einen liefert das Herauslösen der Tochtergesellschaft aus dem Finanzkorsett eines Konzerns in dieser Hinsicht viele Ansätze. Risiken ergeben sich dabei vor dem Hintergrund eines Beherrschungsvertrages genauso wie bei Finanzierungen durch Gesellschafterdarlehen oder dem Vorliegen eines Cashpools. Die zweite Kategorie bezeichnet Sabine Vorwerk als „leistungswirtschaftliches Grundrisiko“, das bei einem Restrukturierungsverfahren immer eine Rolle spielt. Es geht darum, inwiefern sich das Geschäftsmodell optimieren lässt, „wobei das Maßnahmen sind, die der Verkäufer dem Käufer mitgibt, das reicht positiv formuliert in den Bereich Chancenhebung und Wertesicherung“, erläutert sie. In der dritten Kategorie sehen sich die Parteien mit Risiken konfrontiert, weil sich das Insolvenzrisiko wie oben bereits beschrieben realisiert hat. „Möglicherweise gibt der Verkäufer ein Low- oder Non-Performing-Target ab, inklusive einer Mitgift in Form eines negativen Kaufpreises – und dann tritt zwölf bis 15 Monate später die Insolvenz ein.“ Für den Käufer bleibt nicht viel übrig, als einmal den Kaufvertrag zu durchkämmen und Garantien herauszufiltern. „Gibt es die und sind diese nicht erfüllt, kann es Ansprüche geben. Aber das war es im Grunde auch schon. Deshalb ist es für Juristinnen und Juristen ebenso herausfordernd wie wichtig, die ökonomischen Aspekte des Deals nachvollziehen zu können und genau zu verstehen, um was für ein Target es geht, wie das Marktumfeld aussieht und woher die Schwierigkeiten herrühren“, betont Farkas. Ihre Kollegin Sabine Vorwerk intensiviert das Beispiel der Verlustausgleichsansprüche. Diese sind rechtlich besonders geschützt. Und sie berichtet davon, dass in Konzernen nicht immer so damit umgegangen wird, wie die gesetzlichen Leitbilder das eigentlich vorsehen. Für die Muttergesellschaft bedeutet das nicht nur, dass deren Reputation Schaden nimmt, Stichwort verkappte Firmenbeerdigung. „Im Fall, dass ein Unternehmensteil aus einem Beherrschungsverhältnis austritt, hat das Auswirkungen auf den Jahresabschluss. Bei einer Low- oder Non-Performing-Tochter gibt es den Verlustausgleich. Da stellt sich die Frage, ob der zu Fortführungs- oder Liquidationswerten zu ermitteln ist. Im ersten Fall fällt er deutlich kleiner aus, was hoch problematisch ist, wenn sich das Insolvenzrisiko realisiert.“ Auch ein Insolvenzverwalter wird in diese Kerbe schlagen und der Verkäufer einer Tochtergesellschaft sich beim Carve-Out aus einem Beherrschungsvertrag dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass er nicht mehr auf das Fortsetzungsszenario hätte vertrauen dürfen. „Ist das Unternehmen nicht fortführungsfähig, hätte der Verlustausgleich von vorneherein nicht zu Fortführungswerten bilanziert werden dürfen, sondern es hätten schon da die Liquidationswerte zugrunde liegen müssen“, konkretisiert Vorwerk. Stichwort Bilanz, Stichwort Garantie: Das, was für die Versicherungsgesellschaften am relevantesten ist, ist die Bilanzgarantie. „Das ist statistisch die Garantie, die am meisten angegriffen wird“, berichtet Farkas. „Dabei ist die Frage immer, was der Verkäufer bereit ist abzugeben, nach welchen Sorgfaltsmaßstäben er diese erteilt. Auf seiner Seite ist es nicht verkehrt, eine Warranty & Indemnity-Versicherung zu haben, um in den Büchern einen Clean-Cut zu verwirklichen.“ Es müssen keine Rückstellungen gebildet werden, selbst bei einer Garantie-Verletzung ist nicht mehr der Verkäufer der Anspruchsgegner, sondern der Versicherer.
Umfangreiche Herausforderungen
Neben den Risiken existiert im Rahmen eines Carve-Outs eine breite Palette an Herausforderungen, die in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten zu verorten sind. Das betrifft etwa Grundstücke, Produktionsanlagen mit entsprechenden Genehmigungsvorschriften. Es geht darum, was das abgebende und herausgelöste Unternehmen gegenseitig nach der Trennung möglicherweise noch voneinander benötigen, es geht um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Als enorm herausfordernden Komplex in der Carve-Out-Praxis identifiziert Görg-Rechtsanwalt Markus Söhnchen das Herausschälen und Neuaufsetzen der IT-Landschaften. „Das ist technisch schwierig und kann im Einzelfall eine große Zahl personeller, zeitlicher und finanzieller Ressourcen beanspruchen. Das wird in der Planung häufig nicht in adäquater Weise berücksichtigt und verursacht bei der Umsetzung dann entsprechende Schmerzen.“ Die beiden Linklaters-Vertreterinnen heben bezüglich der Herausforderungen die Unterschiede zwischen Share- und Asset-Deal hervor. „Sprechen wir über einen Asset-Deal außerhalb eines Insolvenzverfahrens und verfolgt ein Käufer die dort herrschende Cherry-Picking-Logik, dann muss darauf geachtet werden, nicht in den Bereich des sogenannten Asset-Strippings beziehungsweise in die Existenzvernichtungshaftung zu kommen“, mahnt Vorwerk. Das, was in der Gesellschaft zurückbleibt, muss immer noch eine überlebensfähige Einheit bilden. „In der Umkehrlogik macht das den Asset Deal aus einem Insolvenzverfahren heraus so attraktiv“, führt Vorwerk weiter aus. Da spielt die Überlebensfähigkeit keine Rolle mehr. Carve-Outs zeichnet vor allem eine hohe Komplexität aus. Unternehmensjuristinnen und -juristen sollten sich wappnen und sich mit den wirtschaftlichen Besonderheiten vertraut machen.■ Alexander Pradka