Das ist eine Entwicklung, die auch das Bundeswirtschaftsministerium mit seinem Entwurf für eine Start-up-Strategie der Bundesregierung vom 4. Juni 2022 adressiert. 424 deutsche SE-Unternehmen gibt es zurzeit, darunter 107 mit über 2.000 Mitarbeitern. Das meldete Ende des vergangenen Jahres das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie. Worauf es dort hinausläuft, ist klar: 80 Prozent der großen SE vermeiden die paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat. Durch die DAX-Erweiterung auf 40 Mitglieder seien nunmehr 14 SE-Konzerne im wichtigsten Börsenindex vertreten. Nur vier von ihnen – Allianz, BASF, E.ON und SAP – verfügen noch über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, so die Studie weiter. „Natürlich ist das ein Mitbestimmungsthema“, bestätigt Dr. Nikolai Vokuhl, General Counsel der Hugo Boss AG. „Und wir haben dabei das Glück, dass wir eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern und dem Betriebsrat haben. Es gibt eine lange Historie, aus der ein quasi institutionelles Vertrauen entstanden ist.“ Das habe sich gerade in der Zeit der Corona-Krise gezeigt, als der Vorstand tunlichst vermieden hat, Mitarbeitende zu entlassen, auf der anderen Seite Arbeitnehmende aber auch wussten, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war, um unangemessene Forderungen zu stellen. Indes gibt es aber auch andere Settings. Zwar gibt es Voraussetzungen für den Eintritt in den Aufsichtsrat – diese sind oft nur theoretischer Natur. In der Praxis sieht es so aus, dass auf Arbeitgeberseite die Messlatte hochgelegt wird und entsprechende fachliche Anforderungen gestellt werden – zum Beispiel im Hinblick auf die Finanzexpertise. Auf Arbeitnehmerseite entscheidet die Wahl und es genügt, wenn ein Bewerber oder eine Bewerberin Kolleginnen und Kollegen überzeugt – wie auch immer, das muss nicht über besondere Fachkenntnisse geschehen. Insofern besteht die Gefahr, dass die Besetzung des Aufsichtsrates etwas schief gerät. Die Umwandlung von der deutschen Aktiengesellschaft in die europäische SE ist in erster Linie ein Mitbestimmungsthema, daran muss nichts beschönigt werden. Aber auch nicht zwingend dramatisiert: „Die Unternehmen haben eine andere Rechtsform, aber es sind weiterhin deutsche Unternehmen mit Sitz in der Bundesrepublik, die strategisch wichtigen Enscheidungen werden nach wie vor hier getroffen. Die Rechtsformwahl ist für den Standort meines Erachtens kein Nachteil – im Gegenteil. Die Unternehmen unterliegen weiterhin deutschem Gesellschaftsrecht.“, beschwichtigt Dr. Lars-Gerrit Lüßmann, Partner der Sozietät Taylor Wessing und spezialisiert auf die aktien- und kapitalmarktrechtliche Beratung börsennotierter Unternehmen.
„Wir versuchen in Deutschland seit 20 Jahren, den Anschluss an die Kapitalmärkte insbesondere in London und in den USA zu finden. Das gelingt uns aber nicht.“
Dr. Lars-Gerrit Lüßmann, Partner bei Taylor Wessing
BESONDERE FORM DER MITBESTIMMUNG
Das sieht auch Frank Weigelt, Head of Legal der Unite Network SE so, die aus der Mercateo AG hervorgegangen ist. „Das Thema ist differenziert zu betrachten und hängt davon ab, was ich als Unternehmen gerade erreichen möchte. Grundsätzlich haben wir in der Bundesrepublik sehr verlässliche Instrumentarien“, sagt er. Im Falle seines Unternehmens ging es vornehmlich darum, veränderten Anforderungen aufgrund der zunehmenden Internationalisierung gerecht zu werden. 16 Landesgesellschaften hat Unite und es „ist naturgemäß so, dass die kleineren internationalen Einheiten das Gefühl hatten, dass die große deutsche Muttergesellschaft den Kurs bestimmt.“ Dem versucht das Unternehmen nun sogar mit einer gewissen Form der Mitbestimmung entgegenzutreten. Ganz frisch gebildet hat sich ein so genannter Kulturkreis, in dem Mitarbeitervertreter aus den ausländischen Niederlassungen mitwirken. Wohlgemerkt geht es dabei aber nicht um die sich aus dem Mitbestimmungsgesetz ergebenden Rechte. „Es gibt keinen Einfluss auf strategische oder Produktentscheidungen, keine auf Personalentscheidungen und auch keine auf wirtschaftlich und finanzielle Entwicklungen“, bestätigt Weigelt. Der Fokus liegt auf der interkulturellen Zusammenarbeit und der stärkeren Berücksichtigung abweichender Marktinteressen der einzelnen Länder in der Produktagenda. Weigelt weist im Gespräch darauf hin, dass zu Beginn der 2000er Jahre eine Art Flucht von der GmbH in die Limited stattgefunden hat, vor allem wegen der einfacheren Gründung. Darauf habe der deutsche Gesetzgeber dann aber entsprechend reagiert.
PROBLEM DER WACHSTUMSFINANZIERUNG
Kritisch betrachtet Dr. Lars-Gerrit Lüßmann die Unternehmensfi nanzierung, die in der Frühphase mit Wagniskapital – „Venture Capital“ – anfängt und bis zur Unternehmensfi – nanzierung über den Kapitalmarkt reicht. „Wir versuchen in Deutschland seit 20 Jahren, den Anschluss an die Kapitalmärkte insbesondere in London und in den USA zu fi nden, das gelingt uns aber nicht. Unser Kapitalmarkt ist im Vergleich nicht attraktiv genug.“ Die strukturellen Wettbewerbsnachteile deutscher Unternehmen beginnen aber nicht erst am Kapitalmarkt. Er bemängelt, dass zu wenig getan wird, um deutsche Unternehmen attraktiv zu machen für ausländische Investoren. „In der Beratung erlebe ich immer wieder, dass diese das deutsche Gesellschaftsrecht als zu sperrig empfi nden und deshalb zum Beispiel lieber in den Niederlanden investieren. Das kann dazu führen, dass vielleicht noch der operative Teil des Unternehmens in Deutschland bleibt, aber die Holding, über die die Finanzierung aufgebracht wird, ins Ausland abwandert“, berichtet er und spricht in dem Zusammenhang das Thema „technologische Souveränität“ an, das auch das Strategiepapier des Bundeswirtschaftsministeriums aufführt. Für ihn sind die formalen Hürden in der Bundesrepublik zu hoch. Selbst ein banaler Akt des Corporate Housekeeping wie eine Geschäftsführerbestellung verursacht formalen Aufwand und Kosten, die internationale Investoren selten verstehen: Allein die Vertretungsnachweise der teilnehmenden beziehungsweise vertretenen Gesellschafter für den zugrundeliegenden Gesellschafterbeschluss beizubringen, kann für ausländische juristische Personen mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein. Natürlich sei die Registerpublizität, die durch die hohen Anforderungen gewährleistet wird, eine erhebliche Erleichterung des Rechtsverkehrs, das kostet aber viel Zeit und Geld.
„Es gibt eine etwas romantische Vorstellung vom Aktionärsdialog auf Augenhöhe, der in der Praxis aber gar nicht stattfi ndet.“
Dr. Nikolai Vokuhl, General Counsel, Hugo Boss AG
Zweites Beispiel: „Wir haben für eine deutsche SE eine Finanzierung begleitet. Jeder Investor musste einen Zeichnungsschein ausgestellen, da anders als am Kapitalmarkt keine Bank als Zeichner zwischengeschaltet war. In Deutschland muss dieser mit Originalunterschrift zur Handelsregisteranmeldung vorliegen. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Bündel von 50 Investoren – in Sydney, in New York, Chicago, London, auf den Bermudas. Und die sollen alle einen original unterschriebenen Zeichnungsschein mit Vertetungsbescheinigung beibringen? Und das im Lockdown, als man in Sydney nicht einmal zur Post konnte.“ Wenn die Investoren sich davon abschrecken lassen oder die anwaltliche Beratung keinen Work-around schafft, geht den deutschen Unternehmen viel Geld verloren, das stattdessen anderswo investiert wird. Woran liegt diese empfundene Sperrigkeit des deutschen Gesellschaftsrechts? Vier Punkte nennt der Spezialist für Aktien- und Kapitalmarktrecht: zum einen, dass man in Deutschland nach wie vor mit Investoren fremdelt, die Juristenausbildung immer noch vergleichsweise wirtschaftsfern abläuft, das ausgeprägte Sicherheitsdenken, das sich eher verfestigt denn aufweicht und die Tatsache, „dass wir generell keine Kaufmannsnation sind. Uns fehlt in vielerlei Hinsicht ein gewisser Pragmatismus.“ Deshalb orientieren sich viele – um in der Europäischen Union zu bleiben – nach Luxemburg und in die Niederlande, gerade wenn es darum geht, sich die internationalen Kapitalmärkte offenzuhalten. Nach Lösungsansätzen gefragt, sagt Dr. Lüßmann: „Wir brauchen eine Flexibilisierung unseres Gesellschaftsrechts: Dazu gehören Änderungen bei unseren Grundsätzen zu Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung zur Flexibilisierung der Kapitalaufnahme: Haftungssubstrate haben doch gar keine wirkliche wirtschaftliche Relevanz mehr.Und wir brauchen nicht zuletzt fl exiblere Formvorschriften. Müssen wir wirklich an so vielen Stellen am Beurkundungsprozess festhalten? Muss man wirklich zum Notar, wenn professionelle Marktteilnehmer mit Rechtsanwälten Verträge ausgehandelt haben? Bedarf es dann noch der Warnfunktion der Beurkundung? Deutschland muss viel mehr Digitalisierung wagen und auch zulassen. Die Einführung der notariellen Beurkundung beziehungsweise Beglaubigung mittels Videokommunikation durch das Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) mit Wirkung zum 1. August 2022 ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber welche Anforderungen stellen wir an eine qualifi zierte elektronische Signatur? Trägt der Gesetzgeber damit wirklich zur erforderlichen Erleichterung bei?“ Dr. Nikolai Vokuhl ist auch der Meinung, dass die Anforderungen immer mehr und immer höher werden und dass dies nicht der richtige Ansatz sein kann. „Wenn ich unseren Geschäftsbericht beurteile, was jetzt schon alles enthalten sein muss – und dann sehe, was hinsichtlich Nachhaltigkeit und anderer Reports noch hinein soll, ist das eine echte Herausforderung.“ Wobei der General Counsel von Hugo Boss das weniger an der Rechtsform ankünpft, sondern an den Anforderungen der Kapitalmärkte und Börsen. „Ich glaube schon, dass viele Start-ups heute eher einen Private Equity Deal oder einen M&A Deal bevorzugen. So schön ein Börsengang sein mag, es bindet alles sehr viele Ressourcen, die man lieber in die Geschäftsentwicklung stecken möchte.“
„Änderungen der Rechtsform sind differenziert zu betrachten und hängen davon ab, was ich als Unternehmen erreichen möchte.“
Frank Weigelt, Head of Legal Unite Network SE
VIRTUELLE HAUPTVERSAMMLUNG WAR EINMAL
Digitalisierung ist ein Stichwort. Corona hat die Entwicklung beschleunigt. Hauptversammlungen haben virtuell stattgefunden. Es hätte eine echte Alternative daraus erwachsen können. Mit den zurzeit gültigen gesetzlichen Vorschlägen ist die Attraktivität erst mal wieder dahin. Auch diesbezüglich hat Dr. Lüßmann einen Blick, der über den Tellerrand hinausgeht: „Die virtuelle Hauptversammlung, die in einem zeitlich angemessenen Rahmen durchgeführt werden kann, ist auch attraktiver für ausländische Investoren – und umweltfreundlicher. So hätte auch ein Rentenfonds aus Kalifornien die Möglichkeit, selbst digital an der Hauptversammlung teilzunehmen und mitzuentscheiden. Das ist ein großer Gewinn – auch für die Aktionärsdemokratie. Natürlich müssen Aktionäre Fragen stellen können, aber meiner Meinung nach muss nicht die Möglichkeit vorhanden sein, ausufernd lange Reden zu halten oder zahlreiche Nachfragen oder Geschäftsordnungsanträge zu stellen. Es geht um Rechenschaft und Entlastung und um Dividendenbeschlüsse in einem für Unternehmen und Aktionäre angemessenen, rechtssicheren und international verständlichen Rahmen.“ Niemand wird bestreiten, dass das Covid-Modell keine Dauerlösung sein kann. Es ist nachvollziehbar, dass Aktionärsvertreter und Verbände das nicht eins zu eins akzeptieren. Aber das starre Festhalten an überkommenen Regelungen hilft genauso wenig weiter. Zumal es nach Ansicht vieler, die als Unternehmensjuristin oder -jurist eine Hauptversammlung begleitet haben, auch in der Vergangenheit Nachfragen nur in verschwindend geringer Zahl gegeben hat. „Es gibt eine etwas romantische Vorstellung vom Aktionärsdialog auf Augenhöhe, der in der Praxis aber gar nicht stattfi ndet“, sagt Dr. Nikolai Vokuhl. Es wäre möglich gewesen, mit einem Mehr an Aktionärsrechten als unter dem Covid- Gesetz, aber dennoch mit einem praktikablen und rechtssicheren Ansatz für die Unternehmen eine virtuelle Variante zu etablieren. So, wie es aktuell steht, ist eher zu befürchten, dass die virtuelle Hauptversammlung ein Schattendasein fristen wird. „Viele werden wie wir der Hauptversammlung vorschlagen, die Ermächtigung zur virtuellen Hauptversammlung einzuräumen. Keiner kann vorhersehen, was noch auf uns zukommt. Angesichts der Unsicherheiten werden nur einige Mutige die Online-Variante nutzen. Zu befürchten ist, dass sie sich diverse Jahre mit Anfechtungsklagen herumplagen, bis die Unsicherheiten ausgeurteilt sind. Die große Mehrheit wird auf die Präsenzveranstaltung zurückgehen“, prophezeit Dr. Vokuhl.
Alexander Pradka