Das US-Gentechnikunternehmen Illumina wollte das auf Bluttests spezialisierte Start-up Grail vollständig übernehmen, nachdem es zuvor bereits größter Aktionär des Unternehmens war. Grail erwirtschaftete außerhalb der USA keine Umsätze. Das Vorhaben wurde daher weder in den Mitgliedsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums, noch bei der Europäischen Kommission zur Fusionskontrolle angemeldet, weil die erforderlichen Schwellenwerte nicht erreicht wurden. Für die Kommission legt die EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) die Schwellenwerte fest. Sie hängen ab vom weltweiten Gesamtumsatz der Beteiligten und denjenigen Umsätzen in der Europäischen Union. „Sie gewährleisten, dass die Kommission nur solche Fusionen oder Übernahmen untersucht, die eine bestimmte Marktgröße oder -bedeutung erreichen“, erklärt Dr. Daniel Dohrn, Partner bei Oppenhoff Rechtsanwälte. „Kleinere Transaktionen bleiben von einer Kontrolle verschont.“ Allerdings gibt es in Deutschland und anderen Jurisdiktionen sogenannte Transaktionswertschwellen, „die Transaktionen unabhängig vom Umsatz des Zielunternehmens einer Fusionskontrollpflicht unterwerfen“, ergänzt Dr. Maxim Kleine, Partner der Sozietät Görg. „Eine Kontrollpflicht aufgrund des Transaktionswerts der Fusion hat der EU-Gesetzgeber bislang nicht eingeführt und wird das voraussichtlich auch nicht tun.“ Allerdings hätten acht Mitgliedstaaten in ihren nationalen Regelungen die Möglichkeit geschaffen, bestimmte Zusammenschlüsse von Amts wegen zu prüfen – dabei handelt es sich um sogenannte „Call-In-Powers“. Im Illumina/Grail-Fall wollte die EU-Kommission trotz Unterschreiten der Schwellenwerte die Anmeldung zur Fusionskontrolle über eine Verweisung eines EU-Mitgliedsstaates erreichen, um eine mögliche Wettbewerbsbeeinträchtigung prüfen zu können. „Das Initiativrecht für einen Verweisungsantrag steht in erster Linie den Mitgliedsstaaten von Amts wegen zu, das ergibt sich aus Art. 22 Abs.1 FKVO“, erläutert Dohrn. „Die Kommission kann allerdings die Mitgliedsstaaten auffordern, einen Verweisantrag zu stellen, wenn sie der Meinung ist, dass der Zusammenschluss – trotz Nichterreichen der Umsatzschwelle der FKVO – den Wettbewerb in der EU beeinträchtigt.“ Daraus resultiere allerdings keine Pflicht der Mitgliedsstaaten, einen Verweisungsantrag zu stellen. Da weder Illumina noch Grail Umsätze in der EU erwirtschaftet hatten, war die entscheidende Frage in diesem Fall: Darf ein Mitgliedsstaat der Verweisaufforderung durch die Kommission nachkommen, obwohl er keine Prüfungskompetenz hat? Die Kommission vertrat diese Auffassung und hatte dies auch offensiv in einer eigens vorbereiteten öffentlichen Mitteilung verbreitet. „Einige Mitgliedsstaaten teilten die Auffassung der Kommission, unter anderem die französische Kartellbehörde, die dann auch der Aufforderung der Kommission nachkam und den Fall – trotz Unzuständigkeit – an die Kommission verwies“, erklärt Dohrn. Das Bundeskartellamt tat das – mangels Zuständigkeit – hingegen nicht. Görg-Anwalt Maxim Kleine weist in dem Zusammenhang auf eine Klarstellung hin, die der EuGH in seinem Urteil vorgenommen hat: „Entscheidend ist, dass das an die Kommission verweisende EU-Mitglied selbst zuständig sein muss.“ Einfach ins Blaue hinein kann also eine solche Aufforderung der EU-Kommission nicht erfolgen, wo keine Zuständigkeit vorhanden ist, kann sie nicht quasi per Dekret künstlich hergestellt werden. „Es gibt kein freies Ermessen von Fusionskontrollbehörden, ‚nachträglich‘ eine Prüfpflicht anzuordnen“, sagt Kleine. Das Bundeskartellamt tat das – mangels Zuständigkeit – nicht. 2022 untersagte die EU-Kommission trotzdem den Zusammenschluss.
„Nach dem Urteil des EuGH könnte die EU-Fusionskontrollverordnung geändert werden, um der EU-Kommission per Gesetz explizit die Möglichkeit zur Prüfung sogenannter Killer Acquisitions zu geben.“
Dr. Daniel Dohrn
Partner, Oppenhoff Rechtsanwälte
Erhebliche Folgen für alle Beteiligten
Da dieser bereits vollzogen war, verhängte sie ein Rekordbußgeld in Höhe von 432 Millionen Euro gegen Illumina und ordnete die Entflechtung des Zusammenschlusses an. Die Untersagungsbegründung bewegte sich laut Dohrn nahe an den Kommissionsleitlinien, die „den Fokus von der reinen Marktbeherrschung hin zu einer erhöhten Marktmacht verschieben“. Im konkreten Fall führte die Kommission aus, Illumina könnte sich neben der Erhöhung der Preise und der Verzögerung von Lieferungen weigern, seine Next-Generation-Sequencing-Systeme an Konkurrenten von Grail zu liefern. Konkurrenten von Grail könnten damit aus dem Markt verschwinden. Jetzt, zwei Jahre später, kassierte der EuGH die Beschlüsse: Die Kommission war nicht zuständig und Mitgliedstaaten, die selbst keine Zuständigkeit zur Prüfung eines Zusammenschlusses haben, können nicht an die EU-Kommission verweisen. Da Rechtsmittel vor dem Gericht der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof nicht automatisch eine aufschiebende Wirkung haben, blieb den Unternehmen nichts anderes übrig, als der Entflechtungsanordnung nachzukommen. „Das Risiko, erheblichen Strafzahlungen ausgesetzt zu sein, wenn Illumina und Grail das nicht getan hätten, wäre sehr hoch gewesen“, konkretisiert Oppenhoff-Anwalt Dohrn. Kleine erachtet ein gerichtliches Vorgehen aus rein praktischen Erwägungen für schwierig: „Unternehmen sind regelmäßig nicht bereit, ein Fusions- oder Übernahmeprojekt bis zur rechtskräftigen Klärung der Untersagung um drei oder fünf Jahre auszusetzen.“ Die Folgen sind im vorliegenden Fall verheerend: Ein erneuter Erwerb steht nicht im Raum und die EU muss sich daher auf die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen in empfindlicher Höhe gefasst machen. Was bereits gezahlt wurde, muss die Kommission zurückerstatten. Die EU-Kommission kommt mit der aktuellen Gesetzeslage demnach nicht an die sogenannten Killer Acquisitions heran. Bei solchen Transaktionen kauft ein zumindest sehr marktmächtiges Unternehmen ein anderes „vom Markt weg“, um zu verhindern, dass dieses ihm künftig Wettbewerb machen könnte – etwa, weil es überlegene Innovationen einsetzt oder ein besseres Geschäftsmodell verfolgt. Die entsprechende Schadenstheorie vermutet, dass Killer-Akquisitionen so früh durchgeführt werden, dass umsatz- oder wertbezogene Schwellenwerte, die eine formale Fusionskontrollpflicht auslösen, noch nicht erreicht werden. „Ohne eine materiell-rechtliche Beurteilung des Deals zwischen Illumina und Grail vorzunehmen: Es war in der Vergangenheit immer wieder fraglich, ob das Risiko von Killer Acquisitions tatsächlich so groß ist, wie Fusionskontrollbehörden es gerne darstellen“, meint Maxim Kleine von Görg. Er verweist auf das deutsche Beispiel Studi-VZ, dessen Übernahme durch Facebook das Bundeskartellamt für ausgeschlossen hielt. „Da Studi-VZ ausreichende Umsätze generierte, die die Übernahme fusionskontrollpflichtig machten, haben die Gründer des Unternehmens vermeintlich nicht an Facebook verkauft, sondern zunächst an Holtzbrinck.“ Später hat Holtzbrinck Studi-VZ vermeintlich aus dem gleichen Grund an Vert Capital weiterverkauft und nicht an Facebook. Seit Ende März 2022 gibt es Studi-VZ nicht mehr. Kleine stellt sich hier die Frage, „ob die Verhinderung der angeblichen Killer Acquisition nicht primär den Veräußerungserlös der ursprünglichen Eigentümer geschmälert hat“. Eine andere Entscheidung des EuGH hätte eine fast schon absurde Folge gehabt. „Bei vielen Transaktionen hätten die Protagonisten die Kommission wohl vorsorglich gefragt, ob sie gedenkt, den Fall nach Art. 22 FKVO aufzugreifen“, sagt Daniel Dohrn. Von der Entscheidung des EuGH in Sachen Illumina/Grail unberührt bleibt nach der Entscheidung in der „Towercast“-Rechtssache allerdings die Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle einer Fusion im Rahmen der Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV. Die FKVO als sekundäres Europarecht könne die Anwendbarkeit des Art. 102 AEUV nicht ausschließen, so der EuGH.
■ Alexander Pradka