Die Süddeutsche Zeitung sprach Anfang Februar in einem Artikel von der „ESG-Krise“ und fragte, ob der „grüne Kapitalismus am Ende“ sei. Tatsächlich häufen sich die Nachrichten über Unternehmen, die angeblich eine Abkehr von ESG vollziehen. Im Magazin DAS INVESTMENT ist vom „Anti-Woke-Trend“ zu lesen. Diese Meldungen betreffen in erster Linie den US-amerikanischen Markt. Dort sind Themen rund um ESG stark politisiert. So wundert es wenig, dass hier ohne große Umschweife der Wechsel von Demokraten auf Republikaner durchschlägt und mit Donald Trump ein nicht eben gemäßigter Präsident in das Weiße Haus eingezogen ist. Es ist viel Aktionismus festzustellen. Das mag wenig erfreulich und wenig weitsichtig sein, wenn wir an die Probleme denken, die wir alle weltweit haben. Zeit verlieren sollte da nicht die Maxime sein. Unbestritten ist ESG eine große Herausforderung, weil es kaum einen Bereich im Unternehmen gibt, der nicht davon betroffen ist und weil bei jeder Strategie die damit verbundenen Ziele stets mitgedacht werden müssen. Vor dem Riesenberg mag da manch einer demütig zurückschrecken. Deshalb ist es ratsam, die Betrachtungsweise zu ändern und den Komplex in einzelne, besser überschaubare und damit auch besser zu bewältigende Einzelteile zu zerlegen, nicht in Aktionismus zu verfallen und mit der gebotenen Sachlichkeit zu analysieren und Erkenntnisse in entsprechende Maßnahmen zu kanalisieren. Die erste Frage, die sich viele stellen: Wo ist das Thema am besten aufgehoben? Wer sollte im Unternehmen die Fäden in der Hand halten und das zwingend notwendige interdisziplinäre Miteinander in die richtigen Bahnen lenken? Schon da eröffnen sich viele Möglichkeiten – abhängig ist das unter anderem von der Größe des Unternehmens und den vorhandenen Kapazitäten sowie der Branche, in dem es sich bewegt. EnBW ist Energieversorger und Betreiber kritischer Infrastrukturen, der eine wichtige Rolle bei der Energiewende übernehmen will. Allein in der Rechtsabteilung sind 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, darunter 60 Volljuristen. Im Unternehmen gibt es eine eigene Nachhaltigkeitsabteilung, die direkt dem CEO zugeordnet ist, dort sind die ESG-Themen verankert. „Projektleiter im ESG-Projekt für ‚Social‘ und ‚Governance‘ sind zwei Juristinnen“, konkretisiert Dr. Bernd-Michael Zinow, General Counsel bei EnBW. Er selbst ist Mitglied des Sustainability Committees. Der Automobilzulieferer KAMAX hat laut Angaben ihrer General Counsel und Group Compliance Officer Dr. Dorothee Timmermann ein „in der Praxis eher unübliches Modell“ gewählt: Die Steuerung aller ESG-Initiativen und das Reporting liegen bei Legal & Compliance, das wiederum dem CFO zugeordnet ist. „Hintergrund ist, dass unsere Abteilung inhaltlich sehr breit aufgestellt ist. Neben den dort typischen Aufgaben verantwortet der Bereich auch das globale Enterprise Risk Management, das Internal Audit, plus die ESG-Themen“, erläutert sie. Grund seien die vielen Synergien, die sich aus der Schnittstellenfunktion von Legal & Compliance ergeben haben.

„Sustainability ist eine typische Querschnittsaufgabe, bei der
verschiedene Abteilungen zusammenwirken. Das macht es ja so reizvoll. Legal ist ein wesentlicher Träger.“
Dr. Frank Fischer
General Counsel,
Brenntag SE
Unterschiedliche Verortung des Themas
Das Department hat zudem über Sharepoint-Plattformen einen sogenannten Single Point of Truth für die global zu erhebenden Daten in den drei Einzelbereichen E, S und G geschaffen. „Natürlich wird ESG nicht allein von unserem Ressort bespielt. Weil es Unternehmensaufgabe ist, gibt es Sustainability Teams in allen Bereichen, zum Beispiel Umweltmanager in jeder Operation“, ergänzt Timmermann. General Counsel und das gesamte Legal- und Compliance-Department, allen voran der Nachhaltigkeitsmanager, übernehmen bei KAMAX die Rolle der Vordenker und der Antreiber in der Organisation – „und dies ganz klar nicht nur im Hinblick auf bestehende und zukünftige Regulatorik, sondern auch im Bereich der Nachhaltigkeitsstrategie, im Austausch mit den Fachabteilungen und wichtigen externen Stakeholdern sowie bei der Erfüllung von Anforderungen seitens der Kunden und Kreditgeber.“ Carglass ist Tochter der in London beheimateten Belron. 30.000 Angestellte weltweit hat der Konzern und ist in 35 Ländern vertreten. Die Rechtsabteilung ist zentral beim Mutterkonzern angesiedelt, insgesamt arbeiten dort 50 Rechtsanwältinnen und -anwälte. Kristina Heistermann ist Legal & Compliance Director für Deutschland und Österreich und arbeitet mit zwei weiteren Compliance Managerinnen und vier Rechtsanwältinnen und -anwälten zusammen. „ESG hängt seit dem letzten Jahr unter dem Bereich Human Ressources, da das parallel zu den Strukturen der Konzernmutter verteilt wurde, dort liegen auch Corporate Social Responsibility und das Umweltmanagement“, berichtet sie. Legal & Compliance unterstütze durch Beratung im gesamten Bereich CSRD, das ebenfalls bei HR aufgehängt ist. Das LKSG und die CSDDD hingegen werden hauptverantwortlich von Legal & Compliance betreut. „Meine Rolle ist vorwiegend, das Thema mit der HR-Direktorin abzustimmen, aber auch die Umsetzung der Maßnahmen zu überprüfen“, sagt Heistermann. Sie denkt weiter: „Aus meiner Sicht wäre eine klare Zuständigkeit und Benennung einer Abteilung für ESG-Themen sinnvoll, diese sollte aber idealerweise durch ein ‚ESG-Komitee‘ ergänzt werden, das wiederum die verantwortlichen Bereiche unterstützen und beraten sollte.“ Beim Distributor für Chemikalien und Inhaltsstoffe Brenntag SE sind in den Bereichen Legal und Compliance rund 70 Personen beschäftigt. Dr. Frank Fischer, General Counsel, berichtet, dass in seinem Unternehmen Sustainability integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie ist, ein „Treiber des Geschäfts, der über alle Unternehmensebenen fest verankert ist“. Verschiedene Gremien kümmern sich federführend, im Aufsichtsrat ist das der „Transformation- und ESG-Ausschuss“, auf Führungsebene das „Sustainability Council“ und auf Arbeitsebene die „Sustainability Group“. „Dort können alle Kolleginnen und Kollegen ihren Input einbringen“, beschreibt Fischer.

„Ressourcen- und Kapazitätsengpässe können dazu führen,
dass ESG-Themen nicht priorisiert werden.“
Kristina Heistermann
Legal & Compliance Director,
Carglass
Klare Verteilung von Zuständigkeiten
Um dem Themenkomplex ESG adäquat begegnen zu können, sind zwei Faktoren erfolgskritisch: Das interdisziplinäre Zusammenwirken über verschiedene Hierarchieebenen und Arbeitsebenen hinweg muss reibungslos funktionieren – und damit das möglich ist, muss der Sensibilisierungsgrad entsprechend ausgeprägt sein. Heistermann spricht davon, dass gerade in mittelständischen Unternehmen diese Ausprägung unterschiedlich ausfällt. „Zu den Herausforderungen gehört beispielsweise, dass das Bewusstsein für regulatorische Anforderungen oder potenzielle Risiken zu gering ist. Dazu kommen gegebenenfalls Kapazitätsengpässe.“ General Counsel oder auch Personen in ihrer Rolle könnten aktiv dazu beitragen, das Bewusstsein in der gesamten Organisation aufzubauen und gemeinsam mit Führungskräften anderer Abteilungen eine ESG-orientierte Unternehmenskultur zu fördern. Bei Carglass findet eine enge Zusammenarbeit zwischen Legal & Compliance sowie HR, CSR, Finance & Controlling sowie Einkauf & Logistik statt, einerseits in beratender Funktion, andererseits aber auch als Teil konkreter Projekte, also etwa bei der Entwicklung und Implementierung von ESG-Programmen, die der Umsetzung von Nachhaltigkeits- und sozialen Zielen dienen. „Im Bereich Finance & Controlling geht es um die Sicherstellung der korrekten Umsetzung von ESG-Investitionskriterien und der Berichterstattung nach regulatorischen Standards“, führt Heistermann aus. „Einkauf und Logistik werden mit der Prüfung und Anpassung von Lieferkettenverträgen unterstützt, um Risiken zu minimieren.“ Bei Brenntag liegt der Fokus einerseits auf der Implementierung, wie zum Beispiel der Bereitstellung der „Legal Toolbox“ zur Umsetzung des LKSG. Daneben geht es aber auch um Sensibilisierung durch Bewusstmachung von möglichen Risiken. „Wir befinden uns in einem Umfeld mit ständig wechselnden Trends und Regeln. Risiken entstehen zum Beispiel bei der Entwicklung und Vermarktung von Geschäftsmodellen, die sich dann möglicherweise dem Vorwurf des sogenannten Greenwashings ausgesetzt sehen könnten“, warnt Frank Fischer. Für Dorothee Timmermann ist der Erfolgsfaktor bei der interdisziplinären Zusammenarbeit eine klare und detaillierte RASCI-Matrix. Diese dient dazu, alle Rollen und Verantwortlichkeiten aller Beteiligten in einem Projekt zu identifizieren und zu definieren. Die Buchstaben stehen für Responsible, Accountable, Support, Consulted und Informed. „Wichtig ist, dass festgelegt ist, welcher konkrete Beitrag für den Erfolg einer Initiative notwendig ist. Projekte können leicht ins Stocken geraten, wenn der erwartete Beitrag unscharf skizziert ist“, sagt sie – und weist darauf hin, dass ESG Projektmanagementaufgabe ist, „idealerweise aber gepaart mit einem digitalen- und KI-Mindset“. Diese Skills würden in Legal & Compliance noch mehr benötigt als bisher.

„Ich finde es schwierig, dass Unternehmen einerseits unter einer schweren Bürokratielast leiden, andererseits aber keine Planungssicherheit herrscht.“
Dr. Dorothee Timmermann
General Counsel und Group Compliance Officer,
KAMAX Holding
Wann kommt das „S“ in ESG?
Es fällt auf, dass bisher und auch zurzeit noch sehr viel über das „E“ in ESG gesprochen wird, weniger über das „S“ und das „G“. Timmermann führt das auf die CO2-Reduktionsziele zurück und darauf, dass diesbezüglich die Regulatorik in Europa schon sehr weit fortgeschritten ist. In ihrer Branche spiegele sich etwa die europäische Abgasflottenregelung sehr stark in den Kundenanforderungen der Automobilindustrie an deren Zulieferer wider. „Zudem sind die Vergabe von Krediten zunehmend an den positiven ‚E‘-Status eines Unternehmens gekoppelt“, sagt sie. Sie ist aber davon überzeugt, dass der Bereich „Social“ mehr in den Fokus rückt, wenn die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) im Lagebericht umgesetzt werden. „Aktuell greift das ‚S‘ in unserer Branche mittelbar vor allem über Supplier Ratings wie Ecovadis.“ Heistermann ergänzt: „Aus meiner Sicht ist der Bereich Environment besser und leichter messbar, dadurch ist eine gute Ausgangs- und Vergleichsbasis gegeben.“ Social sei die Säule, mit der sich Unternehmen erst jetzt beschäftigen, weil die meisten die damit im Zusammenhang stehenden Aspekte nicht an einer Stelle zusammenlaufend erhoben und ausgewertet haben, eine Erfolgsmessung und die Festlegung von KPI sei deutlich schwieriger. Bernd-Michael Zinow berichtet, dass das „E“ in ESG bei einem Unternehmen wie EnBW, mit dieser Größe und dem Branchenumfeld, gerade auch in der externen Betrachtung die größte Bedeutung innehat. Dennoch würden „S“ und „G“ sehr ernst genommen. Im Übrigen sei die Messbarkeit von Ergebnissen bei den sogenannten weicheren Themen deutlich erschwert. „Für Themen wie die Senkung von CO2-Emissionen oder den Ausbau der Erzeugungsleistung auf Basis der Erneuerbaren Energien gibt es entsprechende Indikatoren“, so der General-Counsel von EnBW. Und Brenntag? „Auch wir haben beim ‚S‘ verschiedene Initiativen angestoßen“, so Frank Fischer. „Neben unserer Positionierung als verantwortlichem Partner in der Lieferkette liegt der Fokus auf der Sicherstellung von sicheren und fairen Arbeitsbedingungen.“ Dazu gehörten etwa Arbeitssicherheit, Gleichberechtigung, Inklusion und Trainings zur Sensibilisierung gegen „Unconscious bias“. Im Rahmen der Feststellung, welche Maßnahmen gut laufen, seien die Etablierung von Branchenlösungen wie etwa „Together for Sustainability“ zur Auditierung der Lieferkette oder die Teilnahme an globalen Initiativen – auch Fischer nennt Ecovadis – immer hilfreich. „Das führt in der Regel zu Synergieeffekten. Leistungen, die das Unternehmen bereits erreicht hat, wie zum Beispiel die Etablierung gewisser Standards, lassen sich einfacher an die Stakeholder kommunizieren“, so der General Counsel beim Chemikaliendistributor.
Es bleibt kompliziert
Beim Thema ESG ist nicht nur der Blick auf das eigene Unternehmen wichtig, auch die Außenbeziehungen zu Kunden und Lieferanten stehen unter neuen Gesichtspunkten auf dem Prüfstand. Darin ist sich die Gesprächsrunde einig: Langfristig gesehen lassen sich Geschäftsbeziehungen unter Berücksichtigung der ESG-Thematik sogar verbessern. Der Preis dafür ist einmalig ein höherer Aufwand – vorausgesetzt, dass sich Lieferanten- und Kundenbeziehungen nicht häufig ändern, sondern Stabilitätsfaktor sind. „Die Beziehungen werden durch die geänderte Fokussierung aus unserer Sicht intensiver“, bestätigt Heistermann. Die Prüfung der Unternehmen, mit denen Carglass zusammenarbeiten wolle, wird detaillierter und verstärkt auf ESG-Gesichtspunkte ausgeweitet. Das ist auch wiederum eigener Ansporn: „Zusätzlich setzen wir das, was wir von unseren Partnern fordern, auch selbst um und versuchen, uns selbst unter ESG-Aspekten zu verbessern.“ Einigkeit besteht auch dahingehend, was neben den bereits genannten Punkten die größte Herausforderung für diejenigen, die es im Unternehmen mit ESG zu tun haben, ist: sowohl EU- als auch nationaler Gesetzgeber regulieren viel und das mit hohem Tempo. Bernd-Michael Zinow bringt es prägnant auf den Punkt: „Die Arbeit der europäischen und nationalen Legislative ist im Zusammenhang mit ESG-spezifischen Fragestellungen ausufernd. Hier den Überblick zu bewahren, ist sehr anspruchsvoll.“ Einen „guten Start“ attestiert Heistermann den Gesetzgebern. „Aus meiner Sicht haben sie mit der Zeit allerdings an einigen Stellen den Blick für die tatsächliche Umsetzung beziehungsweise das tatsächliche Doing hinter den Regelungen verloren.“ Das treffe insbesondere auf die Regelungen des europäischen Gesetzgebers zu. Einige davon seien in der täglichen unternehmerischen Praxis kaum bis gar nicht handhabbar. „An einigen Stellen fehlt auch die rechtliche Stringenz beziehungsweise die Festlegung gesetzlicher Offenlegungspflichten, die erst zu einer wirklich konsequenten Umsetzung bestimmter Vorgaben führen würde“, bemängelt sie. Der Gesetzgeber übersähe an anderer Stelle die Stärken bestimmter Unternehmen am Markt und die damit zusammenhängende Verhandlungsposition. Die Diskrepanz zwischen hoher Bürokratielast auf der einen und dennoch relativ geringer Planungssicherheit auf der anderen Seite macht Dorothee Timmermann als einen wesentlichen Kritikpunkt aktueller gesetzgeberischer Aktivitäten aus. So sei etwa der Vorstoß der Bundesrepublik, die Berichtspflichten nach der ESRS einzudämmen, sinnvoll. „Nur sind viele Unternehmen zum jetzigen Zeitpunkt bereits in der Umsetzung und haben gesetzlich keine Planungssicherheit.“ Sie blickt zudem mit etwas Sorge über den europäischen Tellerrand hinaus. „Spannend wird sein, was vor dem Hintergrund passiert, dass die Vereinigten Staaten sich mit dem Ausstieg aus dem Klimaabkommen und der Aussage ‚Drill Baby Drill‘ gerade von den Klimazielen Europas sehr stark entkoppeln. Das könnte aus meiner Sicht zu Wettbewerbsverzerrungen in globalen Märkten wie der Automobilindustrie führen.“ Eine kritische Sichtweise vertritt Frank Fischer von Brenntag. Der Ruf nach Reduzierung und Vereinheitlichung sei schon längere Zeit überall laut und deutlich zu vernehmen. „Aufgrund der bestehenden Strukturen innerhalb der Europäischen Union bestehen bei mir jedoch Zweifel an der Reformfähigkeit des Systems.“ Darüber hinaus sei es wichtig, wie unter anderem die jüngsten Entwicklungen in den USA zeigen, dass ESG nicht nur als Kostenfaktor betrachtet wird. Die Unternehmen müssen daran arbeiten und belegen, dass ESG zur Reduzierung von Risiken und zu einer höheren Profitabilität führt. Die politische Entwicklung in Ländern wie Frankreich, Italien, Österreich und auch in Deutschland lässt die Sorge nicht kleiner werden, dass ESG noch lange ein umkämpfter Bereich sein wird, der an einem sicher nicht verlieren wird: seiner Komplexität.
■ Alexander Pradka