Flut, Corona, Krieg: per se schon höhere Gewalt?

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Einzelereignisse wie die Havarie der „Ever Given“ im Suezkanal: Sämtlich sind das Beispiele, in denen sich an höhere Gewalt denken lässt, an die Störung von Lieferketten und die Schwierigkeit – beziehungsweise Unmöglichkeit – vertragliche Leistungspflichten zu erbringen. Sogenannte Force-Majeur-Klauseln sollen das abfangen. Sie sind in den stark in den Fokus gerückt.
vom 14. November 2022
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Was passiert eigentlich, wenn eine vertraglich vereinbarte Leistung nicht erbracht werden kann, weil ein bestimmtes Ereignis „höherer Gewalt“ dem entgegensteht? Diese Frage ist grundsätzlich nicht neu und Vertragsparteien vereinbaren schon seit jeher eine entsprechende Klausel in Verträgen. Bis vor rund zweieinhalb Jahren fristeten sie – eingeordnet in der Nähe zur Vereinbarung zum Gerichtsstand – vor allem in der konkreten Anwendung eher ein Schattendasein, und fanden dabei auch bei den Verhandlungen kaum Beachtung. Meist handelte es sich um Standardklauseln. Seit Beginn der Corona-Pandemie indes hat das Thema sprunghaft an Bedeutung gewonnen. Plötzlich sprechen viele über „Force Majeur“, Unternehmensjuristinnen und -juristen stellen gemeinsam mit ihren beratenden Partnerinnen und Partnern aus den Sozietäten ihres Vertrauens die Klauseln auf den Prüfstand, und es ist Usus geworden, bei Neuverträgen hart über deren Ausgestaltung zu verhandeln. Verschiedene Aspekte haben sich im Zusammenhang mit Force-Majeur-Klauseln durch die anhaltende Krisenzeit verändert und der Umgang mit ihnen ist ein völlig anderer geworden. „Früher waren Klauseln zur höheren Gewalt, zu Force Majeur und das rechtliche Wissen zur Störung der Geschäftsgrundlage eher theoretischer Natur. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und jetzt noch einmal verstärkt durch den Ukrainekrieg ist es ein zentrales und sehr beachtetes Thema in der vertragsrechtlichen Praxis“ bestätigt Dr. Martin Fröhlich, General Counsel und Head of M&A beim Lebensmittelhersteller Krüger. „Die Relevanz war deshalb früher nie sonderlich groß, weil die Fälle, für die diese Klauseln Eingang in einen Vertrag fanden, wie Pandemie, Krieg, Energiekrisen nicht eintrafen oder zumindest nicht in dem Maße, wie wir das heute erleben. Umso größer ist jetzt die Herausforderung, weil alles geballt gekommen ist und Unternehmen sich rasch umstellen mussten.“ Über gesetzliche Regelungen verfügt das deutsche Recht hinsichtlich der Unmöglichkeit der Leistung, zum Wegfall der Geschäftsgrundlage. Das Thema höhere Gewalt taucht vereinzelt auf, etwa bei der Verjährungshemmung oder auch in reiserechtlichen Vorschriften. Anders als in anderen Rechtsgebieten wie zum Beispiel Frankreich findet sich aber keine konkrete gesetzliche Regelung zur „Force Majeur“.

 

Einzelfallrecht

„Wir haben in der Beratung gleich zu Beginn der Corona-Pandemie die Klauseln in Verträgen unter die Lupe genommen und geschaut, was sind die jeweiligen Voraussetzungen“, berichtet Dr. Philipp Asbach, Rechtsanwalt und Senior Manager bei KPMG Law in Hamburg. Reicht bei fehlender und unzureichender Vertragsregelung allein das Vorliegen einer Epidemie oder Pandemie aus, um Force Majeur anzunehmen und wann liegt überhaupt eine Pandemie vor? Orientierung gaben in diesem speziellen Fall die Mitteilungen des Robert-Koch-Instituts und der Bundesregierung. „Die Definitionen in Verträgen sind meist sehr unterschiedlich, im Kern weisen sie aber drei wesentliche Bausteine auf“, spezifiziert Dr. Asbach. Es muss ein Ereignis vorliegen, dass betriebsfremd oder außergewöhnlich ist und von außen kommt und dabei unvorhersehbar war. Zweitens konnte es mit äußerster oder auch großer Sorgfalt nicht verhindert werden und drittens muss eine Partei durch das Ereignis tatsächlich gehindert sein, ihre Vertragspflicht zu erfüllen. „Wir sehen, dass es viele interpretationsbedürftige Ausdrücke gibt, die teilweise unterschiedlichen Auffassungen unterliegen.“ Jedenfalls reicht es nicht aus, sich einfach nur auf das Auftreten eines Phänomens zu berufen und das unter den Begriff „Force Majeur“ zu subsumieren, wie vielfach anlässlich Pandemie und Krieg geschehen. „So ein Ereignis ist zunächst einmal etwas Abstraktes, notwendig ist eine tatsächliche Betroffenheit. Ich bezeichne das als ‚echte Kausalität oder direkte Betroffenheit“, stellt Dr. Asbach klar. Wer etwa als Betreiber seine Fabrik schließt, um seine Mitarbeitenden zu schützen, obwohl es keine behördliche Anordnung gab, kann sich aller Voraussicht nach – und je nach Ausgestaltung der Klausel – nicht auf Force Majeur berufen, auch wenn das paradox sein mag und die Ursache im Ausbruch der Pandemie lag. Auch Vorhersehbarkeit und Sorgfaltspflichten sind heikle Punkte, über die sich trefflich streiten lässt. Es bleibt für die Bewertung nur die Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls. „Eine Partei kann aber nicht die Leistung verweigern oder sich von einem Geschäft lösen, nur weil es auf einmal wirtschaftlich unattraktiv geworden ist. Es muss auf absolute Ausnahmesituationen begrenzt sein“, ergänzt Dr. Fröhlich. Sicher ist nur, dass sich die Antwort auf die Frage, ob ein Ereignis eine „Force Majeur“ darstellt oder nicht, mit diesem selbst verändert, sie ist insofern nicht statisch, sondern dynamisch.

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„Seit Beginn der Corona-Pandemie ist häufig ein falsches Verständnis von Force-Majeur zu beobachten – in dem Sinne, dass sich Parteien pauschal, das heißt ohne rechtliche Prüfung des Einzelfalls und der jeweiligen Vertragsregelung darauf berufen.“

Dr. Philipp Asbach, Rechtsanwalt KPMG Law

Force Majeur ist Änderungen unterworfen

Dabei kommt es entscheidend auf den Zeitpunkt an, wann es zum Vertragsschluss gekommen ist. „Ein Vertrag, der während der Corona-Pandemie geschlossen wurde, ist im Hinblick auf die Annahme einer Force Majeur aufgrund neuer Erkenntnisse ganz anders zu bewerten als ein anderer, der vor dem ersten Auftreten geschlossen wurde“, bestätigt Dr. Asbach von KPMG Law. Der Anwendungsbereich wird enger und die Anforderungen an die Formulierung anspruchsvoller. Wichtig im Streitfall ist, dass das Unternehmen, das sich auf die Klausel beruft, Betroffenheit, Kausalität und mangelnde Vorhersehbarkeit nachweisen kann. Das geht mit gesteigerten Dokumentationspflichten einher. Unterstützen können hier öffentliche Dokumente, Nachrichten- und Zeitungsbeiträge, datierte Fotos und Videos. Selbst die in diesem Zusammenhang von der chinesischen Außenhandelskammer erteilten Corona-Zertifikate müssen überprüft werden. „Fraglich ist, ob diese in einem Prozess als Beweis anerkannt werden“, so Dr. Asbach. Und: Die Unmöglichkeit einer Lieferung oder einer rechtzeitigen Lieferung muss zu einem möglichst frühen Zeitpunkt angezeigt werden. Wobei Dr. Fröhlich davon ausgeht, dass Vertragspartner die meisten Angelegenheiten aktuell kaufmännisch lösen. „Es braucht schnelle Lösungen und kaum jemand hat Interesse daran, mit langen Prozessen Präzedenzfälle zu schaffen“, sagt der General Counsel von Krüger. „Das Verständnis für die Situation des anderen ist sehr oft vorhanden.“

 

Klauseln gehen mehr ins Detail

Fest steht, um die Klauseln wird härter gerungen als früher. Das beginne schon bei der Definition, was ein Force-Majeur-Fall ist und was nicht, sagt Dr. Fröhlich. „Das geht wesentlich mehr ins Detail. Häufig spielen jetzt Kriterien eine Rolle, die es in der Form früher nicht getan haben, wie etwa öffentlich-rechtliche Maßnahmen wie energiesicherheitsrechtliche Instrumente oder die Anordnung von Lockdowns.“ Es werde sehr genau festgelegt, welche durch die Pandemie oder Energiekrise ausgelösten Situationen tatsächlich als Force-Majeur-Events anzusehen sind. In der Rechtsberatung kommt es darauf an, auf welcher Seite der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin steht. „Der Mandant, der die Hauptleistungspflicht erbringt, hat regelmäßig ein Interesse daran, die Force-Majeur-Klausel sehr weit zu fassen und möglichst viele Situationen zu erfassen“, konkretisiert Dr. Asbach. Ein anschauliches Beispiel liefert auch da die Pandemie: Wer es schafft, mögliche Virus-Mutationen gleich vom Start einer Beziehung weg in die Klausel zu integrieren, hat möglicherweise später Vorteile, wenn dieses oder jenes Phänomen tatsächlich auftritt. „Umgekehrt wird derjenige, der zur Zahlung verpflichtet ist, versuchen, die Klausel so eng wie möglich zu halten, um den Lieferanten nicht so leicht aus seiner Pflicht kommen zu lassen.“ Die Praxis ist vorsichtiger geworden, vor allem mit irgendwelchen Garantien, in Aspekten der Lieferfähigkeit, bei den Fristen. Die Ausgestaltung insgesamt ist mit der Änderung der Stoßrichtung weg von der Standardklausel hin zur Einzelfallregelung komplizierter geworden. Dabei ist dennoch zu beachten, dass im Falle einer AGB die gesamte oder Teile der Force Majeur-Klausel von einem Gericht später als unwirksam erachtet wird und sich ein Unternehmen nicht mehr darauf berufen kann. In diesem Fall kann auch eine Schadensersatzpflicht die Folge sein. Apropos Rechtsprechung: Wo es keine gesetzliche Regelung gibt, kommt ihr eine gestiegene Bedeutung zu.

 

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„Die Anforderungen, die an höhere Gewalt oder auch an die Störung der Geschäftsgrundlage  oder Unmöglichkeit gestellt werden, sind aktuell zu hoch und bedürfen einer Anpassung.“

Dr. Martin Fröhlich, General Counsel, Krüger Group

Leitplanken der Rechtsprechung

Zwar gibt es in Deutschland kein – oder zumindest nicht offiziell – „Case-Law“. Trotzdem stellt sie die Leitplanken auf, innerhalb derer Unternehmen – insbesondere in Zeiten starker Veränderungen – manövrieren können. Oder besser könnten. Im speziellen Fall der höheren Gewalt sind zurzeit nur Ansätze zu erkennen, wie sich ehemalige Grundsätze ändern und neuen Situationen angepasst werden – wie etwa im Fall der Gewerberaummiete bei behördlich angeordnetem Lockdown oder auch bei den Fitnessstudio-Fällen. „Praxistaugliche Anpassungen“ wünscht sich Dr. Fröhlich. „Pacta sunt servanda“ ist ein sehr festes Prinzip – „und wer eine Beschaffungs- und Preisgarantie übernommen hat, ist daran im Grundsatz auch festzuhalten. Allerdings erleben wir gerade extreme Ausnahmesituationen, die zudem von Dauer sind und die meines Erachtens unter vielen Gesichtspunkten eine Neubewertung der bisherigen Rechtsprechung brauchen. Kriterien, die bisher angewandt wurden, passen nicht mehr“, so der General Counsel des Lebensmittelherstellers. Der BGH hat in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts festgelegt, dass erst eine Gesamtpreissteigerung von über 100 Prozent tatsächlich eine Störung der Geschäftsgrundlage nach sich zieht. „Es gibt aber Low-Margin-Geschäfte, in denen per se kein großer Gewinn gemacht wird. Es kann bereits ruinöse Folgen haben, wenn es signifikante, unvorhersehbare Kostenexplosionen unterhalb des in der Rechtsprechung festgelegten Levels gibt. Es sollte eine realistischere Betrachtung angelegt werden. Ansonsten haben wir ein Rechtskonstrukt, das in der Praxis keinen Anwendungsbereich hat“, so Dr. Fröhlich. Es wird spannend sein zu beobachten, welche Fälle überhaupt bis vor den BGH kommen – Stichwort kaufmännische Einigung – und welche Veränderungen sich dann noch bei der Beurteilung von Force Majeur ergeben.                        

Alexander Pradka

Beitrag von Alexander Pradka

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