Legal Tech ist aus Rechtsabteilungen nicht mehr fortzudenken. Für Legal Offices, die gerade erst in die Digitalisierung einsteigen, gibt es jetzt einen mit dem Spätanfang verbundenen Vorteil: Mittlerweise bietet der Markt eine ganze Menge sogenannter Low-Code-Plattformen. Mit deren Hilfe soll man vergleichsweise schnell und ohne Programmiererkenntnisse die Arbeitsabläufe in der Rechtsabteilung digital abbilden und damit Anwendungen (Applikationen, Apps) konfigurieren können. Diese Möglichkeit hatten die Legal-Tech-Pioniere noch nicht, denn sie waren oft auf kostspielige Eigenentwicklungen angewiesen. Im Gegensatz dazu setzt Low Code auf teilprogrammierte Anwendungsmodule, die nur noch durch die Eingabe spezifischer Parameter komplettiert werden müssen. Dem Ansatz nach soll Low Code also allen Mitarbeitern ermöglichen, Anwendungen ohne den Einsatz von IT-Fachleuten zu programmieren. „Es gibt den so genannten Citizen-Developer-Ansatz, der besagt, dass jeder Mitarbeiter im Unternehmen Low-Code-Anwendungen bauen darf“, erklärt Kai Kubsch, Strategieberater für Legal Tech bei KPMG Law in Frankfurt. Der sei im Grunde keine schlechte Idee, da Endnutzer ohne IT-Studium, aber mit technischem Verständnis, die sich als Entwickler betätigen dürfen und können, am besten wissen, welche technischen Lösungen für ihre Aufgaben geeignet sind. Aber Wirtschaftsmathematiker Kubsch sagt auch: „Hochqualifizierte Rechtsanwälte müssen nicht programmieren können, nicht mal Low Code, allenfalls No code, wo überhaupt kein Programmierwissen nötig ist. Zumindest ein Mitarbeiter in der Rechtsabteilung sollte das Konzept der Plattform verstanden haben und Anwendungsfälle identifizieren können. Denn es verspricht einen enormen Effizienzgewinn.“ Den hat die Rechtsabteilung der TÜV SÜD AG schon zum Gutteil eingefahren, berichtet Diplom-Kauffrau und -Volkswirtin Claudia Hawle. Sie ist Head of Corporate Governance Operations & Services, berichtet an den General Cousel und hat vor allem die Digitalisierungspotenziale der juristischen Arbeit im Blick. „Unsere Unternehmensjuristen müssen immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit bewältigen. Daher müssen wir abwägen: Was sind low-value-Themen, bei denen wir den hochgradig fachlichen Input des Juristen nicht brauchen? Mithilfe der Technik können wir diese Themen automatisieren. Dadurch werden die Juristen effizienter.“ Low-Code-Plattformen bieten eine sehr gute Möglichkeit, Prozesse und Anforderungen der Rechtsabteilung zu digitalisieren. Man kann sich das vorstellen wie ein Fertighaus, bei dem in einem Werk vorproduzierte Wände samt Türen, Fenstern und Markisen mit Hilfe eines Krans von Lastwagen auf ein Fundament gehievt und dort (hoffentlich) fugenlos montiert werden. Während der Bau eines Massivhauses viele Monate benötigt, steht ein Fertighaus binnen Tagen zum Einzug bereit – vorausgesetzt, die gelieferten Teile sind in Ordnung und Monteure, Zimmerleute, Elektriker und Klempner stehen just-in-time parat, um die gelieferte Mobilie an die Ver- und Entsorgungsnetze anzuschließen, Innenarbeiten auszuführen und so zur Traum-Immobilie des Kunden zu machen.
„Wobei brauchen wir den fachlichen Input des Juristen nicht? Mithilfe der Technik können wir diese Themen automatisieren. Dadurch werden die Juristen effizienter.“
Claudia Hawle
Head of Corporate Governance Operations & Services,
TÜV Süd, München
Zurück in die Rechtsabteilung: Was beim Fertighaus die Wandmodule, sind beim Low Coding vorprogrammierte Entwicklungs-Bausteine, die man auf Low-Code-Plattformen durch einfaches Zusammenklicken zu einer rechtsabteilungsindividuellen Anwendung kombinieren kann. Sequenzen von wiederkehrenden Arbeitsschritten, die sonst ineffizient analog geleistet werden, lassen sich mit Hilfe von Workflow-Tools automatisieren. Inzwischen werben viele Low-Code-Plattformen damit, die Erstellung solcher Abläufe ohne Programmierkenntnisse zu ermöglichen und so die traditionelle Softwareentwicklung in Zeit und Kosten um Längen zu schlagen. Juristen und Nicht-Programmierer können, so das Versprechen der Low-Code-Anbieter, eigene Anwendungen erstellen und ändern, um wiederkehrende Arbeitsabläufe wie Vertragsmanagement, Dokumentenerstellung oder Fallbearbeitung zu optimieren. Coding-Kenntnisse sind also keine zwingende Voraussetzung mehr, um die Rechtsabteilung in die digitale Welt zu befördern. Das weiß auch Claudia Hawle aus der Rechtsabteilung des TÜV SÜD. Sie bildet die Schnittstelle zwischen IT und den Unternehmensjuristen. Kann, sollte, muss man von jeder Juristin, von jedem Juristen erwarten, dass sie oder er dank Low Coding nun selbst die gewünschten Anwendungen programmieren kann? „Nein“, sagt Claudia Hawle mit Nachdruck. „IT’ler können das, aber Juristen normalerweise nicht. Juristen haben die Abläufe und Entscheidungsbäume der juristischen Arbeit sowie rechtlicher Prozesse im Kopf. Aber daraus kann man nicht ableiten, dass sie komplexe prozessuale Entscheidungsbäume bauen und in maschinenlesbare Sprache umwandeln können.“ Daraus leitet sie ab, dass jedes Legal Office dediziert eine oder einen hauptberuflich Verantwortlichen für das Thema Legal Operations & Technology einstellen sollte, um so das Low Coding professionell angehen zu können. „Man muss Prozesse analysieren, verstehen und neu definieren können. Ausgeprägte Projekterfahrung ist ein sehr großer Vorteil in dieser Rolle. Vor allem aber muss er oder sie den Anwälten zuhören können, um zu verstehen, was das Ziel eines Arbeitsablaufs ist, damit dieser dann akkurat digital abgebildet wird.“ Das sei die Aufgabe dieses Legal Operations-Mitarbeiters. Danach sei der Jurist wieder am Zuge, um den juristischen Content, zum Beispiel Vertragsklauseln, im System zu unterlegen. „Der fachliche Inhalt kommt von den Anwälten. Die technische Umsetzung macht Legal Operations.“
Das amerikanische Marktforschungsunternehmen Gartner sagt Low Code eine glänzende Zukunft voraus. 2023 habe der weltweite Markt für entsprechende Tools ein Volumen von etwa 26,9 Milliarden Dollar erreicht, in diesem Jahr soll der Markt für Low-Code-Technologien um weitere 19 Prozent auf fast 32 Milliarden Dollar zulegen. Besonders rasant wachsen Low-Code Application Platforms (LCAP). Damit werden die Anbieter Gartner zufolge in diesem Jahr fast zehn Milliarden Dollar verdienen, das wäre rund ein Viertel mehr als 2022. Noch kein Milliardengeschäft sind Citizen Automation and Development Platforms (CADP), die schon nahe dem No Coding kommen. Allerdings ist dieses Segment 2023 am schnellsten gewachsen. Kai Kubsch von KPMG Law kann das angesichts der Vorteile sehr gut nachvollziehen: „Erstens Effizienzgewinn, sprich: sinkende Kosten. Zweitens Zugriffs- und Datensicherheit. Und drittens Datentransparenz.“ Viele schauten beim Low Coding nur auf den ersten Punkt. Aber das mache den Mehrwert nicht allein aus. Sondern: „Ohne Transparenz die Kennzahlen seiner Rechtsabteilung herzustellen, steuert man im Dunkeln. Mit dem Einsatz von Low Code Lösungen, bringen wir Licht hinein.“ Und das ist schließlich auch ein Ziel der Digitalisierung.
■ Christine Demmer