DISCOVERY PHASE – PART 1: DAS PROBLEM VERSTEHEN
„Lina, hast du schon das Jira-Ticket zur Expansion nach Frankreich gesehen?” Wenn auf diese Anfrage ein fragendes Gesicht von Lina aus der Rechtsabteilung folgt, ist die Antwort entweder „Nein, noch nicht.” oder im worst case scenario „Was ist denn Jira?”
Während es für Fachbereiche eines Unternehmens zum Standardrepertoire gehört, Projektmanagement zu betreiben und hierfür technische Tools zu verwenden, ist dies noch lange nicht der Standard in Rechtsabteilungen. Rechtsabteilungen sind häufig nicht die treibende Kraft hinter Projekten, sondern unterstützen bei Teilaufgaben. Umso wichtiger ist es, dass die Rechtsabteilung die Tools kennt, die von ihrer Mandantschaft verwendet werden. Denn wenn sie ihre Aufgaben nicht kennt – quasi nicht mit am Tisch sitzt – wie soll sie dann effektiv eingebunden werden?
Auf der anderen Seite bieten Projektmanagement-Tools auch für die Organisation der Arbeit innerhalb der Rechtsabteilung selbst extreme Benefits. Beispielsweise lassen sich durch „Kanban-Boards” die Aufgaben der gesamten Rechtsabteilung oder einzelner Teams visualisieren. Durch diese Transparenz ist ein Austausch mit den Kollegen und Kolleginnen auf Augenhöhe möglich, Verbindungen werden sichtbar, Zeit wird eingespart.
DISCOVERY PHASE – PART 2: DIE RICHTIGE LÖSUNG FINDEN
Rechtsabteilungen sollten daher prüfen, welche Projektmanagement- Tools von den betreuten Fachbereichen verwendet werden. Durch aktives Einbringen in diese Tools, wird der Informationsfluss besser und die Rechtsabteilung kann effizienter an dem Projekt mitarbeiten.
BESTANDSAUFNAHME
Zunächst sollte im Rahmen der Discovery Phase geprüft werden, welche Tools im Unternehmen bereits für das Projektmanagement zum Einsatz kommen. Hierbei kann nach Stichworten wie Kanban, DevOps, Jira, Ausschau gehalten werden. Es lohnt sich stets, bei der IT-Abteilung nachzufragen, wie sie ihre internen Projekte strukturiert und welche Tools sie hierfür nutzt. Am Puls der Zeit sind erfahrungsgemäß häufig auch Personalabteilungen, Finanzabteilungen, Fachabteilungen für Personalentwicklung oder Agile Coaches. Für das gemeinsame Projektmanagement mit den Abteilungen ist es jedoch entscheidender, die Abteilungen zu identifizieren, von denen der Hauptteil der Anfragen kommen: Welche Tools zum Projektmanagement nutzen sie und wie kann sich die Rechtsabteilung hieran anbinden? Gibt es eine Projektmanagementsoftware, mit der alle relevanten Mandanten arbeiten oder an die sie jedenfalls angebunden sind?
ERWARTUNGEN ABFRAGEN
Der Fokus der Erwartungsabfrage hängt stark davon ab, welche Art von Projektmanagement in Angriff genommen werden soll. Während es beim internen Projektmanagement vor allem um die Zuordnung und den Umgang der Rechtsabteilung mit eigenen Ressourcen im Verhältnis zu dem zu bewältigenden Volumen rechtlicher Anfragen geht, befasst sich das externe Projektmanagement mit der Bearbeitung der konkreten Anfragen, welche meist in Zusammenarbeit mit anderen Fachabteilungen erfolgt. Beim Aufbau eines digitalen externen Projektmanagements sollte sich die Rechtsabteilung genau mit den Erwartungen der anderen Fachabteilungen auseinandersetzen. Auf welche Art möchten diese gerne zusammenarbeiten? Mit welchen Vorgehensweisen und Tools haben sie gute Erfahrungen gemacht? Stehen in naher Zukunft Änderungen in ihrer IT-Infrastruktur an? Das interne Projektmanagement ist weniger abhängig von den Erwartungen der anderen Abteilungen. Allerdings müssen hier andere Voraussetzungen und Umstände berücksichtigt werden. Gibt es beispielsweise Vorgaben höherer Leitungsebenen? Wie steht es um die Erfahrungen und auch Begrenzungen der juristischen Mitarbeitenden in der Abteilung bei der Einführung eines neuen Projektmanagements? Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, welche Erfahrungen die Gesamtorganisation mit bestimmten Formen des Projektmanagements hat. Ein volldigitalisiertes Start-Up aus dem IT-Bereich wird hier einen anderen Stand haben als ein prozessbezogen insgesamt noch konservativ aufgestelltes Unternehmen.
DELIVERY PHASE
Während die Anbindung der Rechtsabteilung an ein bestehendes Projektmanagement eine vergleichsweise einfache Aufgabe ist, stellt es für jede Organisation eine große Herausforderung dar, ein komplett neues Projektmanagement zu implementieren. Es sollte ausreichend Zeit in Planung und Vorbereitung investiert werden. Dies beginnt schon damit, dass folgenreiche Entscheidungen zu Vorgehensweise (Wasserfall vs. agil) und Software zu treffen sind. Es existieren bereits sehr gute Erfahrungen damit, interdisziplinäre Teams einzurichten, deren Mitglieder sich mit ihrer jeweiligen Expertise von verschiedenen Seiten der Herausforderung nähern. Auch lohnt es sich, anhand von Planspielen Praxiserfahrungen zu sammeln und Zeit für Testphasen einzuplanen, um herauszufinden, welche Methoden sich in welcher Situation eignen.
REVIEW-PHASE / COOL DOWN
Und natürlich sollte nicht vergessen werden, sich Zeit für die “Lessons Learned” zu nehmen. Dabei lohnt es sich, den Blick weniger darauf zu fokussieren, was schlecht gelaufen ist, sondern darauf, welche Verbesserungen implementiert werden können. Und diese in der nächsten Iteration zeitnah anzugehen.
BEISPIEL FÜR EXTERNES PROJEKMANAGEMENT: JURA-JIRA BEI IDEALO
Als die Rechtsabteilung des Unternehmens idealo ein Ticketsystem zur Bearbeitung rechtlicher Fragestellungen des Unternehmens einführen wollte, fiel der Blick schnell auf Jira. Bei Jira handelt es sich um eine Software zur Vorgangsund Projektverfolgung des Anbieters Atlassian, die bei idealo bereits zur Softwareentwicklung und für andere Aufgaben genutzt wird. Für jeden Einzelvorgang wird ein Ticket erstellt und einem Bearbeiter oder einer Bearbeiterin zugeordnet. Jura-Jira war geboren. Das Tool erfüllt beinahe perfekt alle Anforderungen, die zuvor definiert wurden. Zunächst war entscheidend, die Kommunikationskanäle zur Rechtsabteilung zu bündeln und für alle Beteiligten transparent zu machen. Relevante Informationen liegen nicht mehr in Chatverläufen oder E-Mails-Threads Einzelner, sondern finden sich jederzeit einsehbar im Ticket.
Für die Kolleginnen und Kollegen werden Anwendungshürden vermieden. Sie sind den Umgang mit Jira bereits aus ihrer Abteilung gewohnt und können ohne zusätzliche Schulung Jura-Jira sofort nutzen. Ein Ticket wird nach Erstellung durch das ausgewählte Thema in einem automatisierten Prozess der richtigen Person zur Bearbeitung zugeordnet. Kein Anliegen kann durch das „Raster rutschen”. Sofern das rechtliche Thema falsch bezeichnet wurde, kann der Bearbeiter es mit einem Klick an die richtige Person weiterleiten.
Alle relevanten Dokumente finden sich im Ticket, können dort nachträglich noch eingefügt werden und müssen nie mehr aus verschiedenen Quellen zusammengesucht werden. Priorisierungen und interne wie externe Fristen können ebenfalls abgebildet werden. Alle Informationen und Prozesse sind für die Beteiligten transparent. Ticketautor und Bearbeiter können festlegen, welche Personen – beispielsweise Führungskräfte – den Vorgang sehen und bearbeiten dürfen. Damit wird im sensiblen Bereich von Recht und Datenschutz gleichzeitig ein striktes Need-to-Know-Prinzip ermöglicht. Es kommt immer wieder vor, dass Rechtsfragen von einer anderen Abteilung erneut gestellt werden oder sich Folgeprojekte ergeben. In dieser Situation lässt sich leicht auf frühere Tickets referenzieren oder lassen sich interne Verknüpfungen zu anderen Tickets erstellen (beispielsweise bei Vertragsprüfungen zu den Tickets der Einkaufsabteilung).
Es gibt weitere Vorteile, die in der Arbeitspraxis nicht zu unterschätzen sind. Der Einrichtungsaufwand von Jura-Jira war niedrig, da es bereits im Produktivbetrieb stand und lediglich auf die Bedürfnisse der Rechtsabteilung angepasst werden musste. Die Lizenzen sind bereits im Unternehmen vorhanden und die interne IT-Abteilung mit der Software vertraut. Selbstverständlich ist (noch) nicht alles perfekt. Derzeit wird der Prozess der Ticketerstellung überarbeitet, um mit unterschiedlichen Eingabemasken den jeweiligen Anwendungsfall besser zu erfassen. Die Bearbeitung eines Tickets für eine urheberrechtliche Abmahnung erfordert andere Informationen als eine Vertragsprüfung. Diese Informationen sollten so früh wie möglich im Ticket auffindbar sein und nicht erst nach Erstellung vom Bearbeiter abgefragt werden. Ein klarer Fall für die nächste Iteration.
BEISPIEL FÜR INTERNES PROJEKTMANAGEMENT: DIGITALE KANBAN-BOARDS IN DER RECHTSABTEILUNG DER ING DEUTSCHLAND
Die ING Deutschland setzt seit vielen Jahren Produkte von – unter anderem – Service Now erfolgreich für das Matter Management in den Bereichen HR, IT und Facility Management ein. Wenn zum Beispiel eine Mitarbeiterin der ING Deutschland ein neues Diensttelefon braucht oder ein Mitarbeiter Elternzeit beantragen will, wird die entsprechende Anfrage über Service Now aufgenommen. Das Anliegen wird zu einem Ticket, das in einen Bearbeitungsworkflow wandert. Dort wird es zentral gemanagt, bis es abgeschlossen ist. Und hier kommt der „Legal Hack“: Diese im Grunde sehr simple Technologie lässt sich auch gut für juristische Workflows nutzen. Ein einzelnes Arbeitspaket wird so zu einem virtuellen Post-it auf einem digitalen Kanban-Board, das sich die jeweilige Einheit für diesen Zweck gebaut hat. Praktisch gestaltet sich der Arbeitsalltag in den meisten Teams der Rechtsabteilung der ING Deutschland deshalb heute so, dass Arbeitsinhalte über Kanban-Boards visualisiert und organisiert werden. Diese Boards verfügen in der Regel über mindestens drei Spalten, nämlich „Backlog“ (noch nicht begonnene Arbeitspakete), „Doing“ (Arbeitspakete, die aktuell bearbeitet werden) und „Done“ (beendete Arbeitspakete).
Eine inhaltliche Anfrage aus einem Fachbereich an die Rechtsabteilung wird so beispielsweise zuerst einmal in die digitale Spalte „Backlog“ aufgenommen. Dort wird sie nach Dringlichkeit, Inhalt und Ressource einem Teammitglied zugeteilt, idealerweise weitgehend selbstorganisiert ohne Intervention der Führungskraft (sogenanntes Pull-Prinzip). Mit Bearbeitungsbeginn wird die Karte dann ins Feld „Doing“ verschoben und wandert nach abgeschlossener Bearbeitung ins Feld „Done“. Diese Arbeit am Board wird flankiert durch Daily standups, also tägliche oder mehrmals wöchentliche Teammeetings, in denen das Team Updates und neue Aufgaben am Board kurz bespricht. Diese Meetings sind auch der Raum, in dem Teammitglieder potenzielle Hindernisse zur Sprache bringen: Wo brauche ich Unterstützung? Was hält mich auf?
Diese Arbeitsweise bringt eine Reihe von Vorteilen:
• Die Nutzung von Kanban-Boards hat zu einer verbesserten Eigenorganisation der Teams geführt, weil Kommunikation und Eigeninitiative im Team zunehmen. Die Rolle der Führungskraft wird zwar nicht entbehrlich. Idealerweise nimmt diese aber eine stärker moderierende Rolle ein als zuvor.
• Die erhöhte Transparenz der Arbeitsinhalte erleichtert interne Vertretungen, aber auch die Einarbeitung neuer Teammitglieder.
• Daily standups bieten – gerade für physisch voneinander getrennte Teams – einen schönen Fixpunkt im Tagesablauf.
• Beim Anlegen von Kanban-Boards müssen Teams sich gezwungenermaßen mit den eigenen Workflow- und Kommunikationsstrukturen kritisch auseinanderzusetzen. Auch die bestehende Meeting-Kultur muss auf den Prüfstand.
• Need-to-know-Prinzip und Vertraulichkeit lassen sich auf digitalen Boards sehr konsequent umsetzen, indem der Zugriff „per Design“ beschränkt wird.
• Die Erfahrung zeigt, dass Austausch und Interaktion in regelmäßigen kurzen Terminen eine höhere Qualität haben als in sehr langen Meetings.
FAZIT:
Mit der Digitalisierung steigt der Grad der Vernetzung in den Unternehmen. Mehr fachübergreifende Projekte sind die Folge. Diese erfordern eine zumindest kompatible digitale Infrastruktur und die Beherrschung eines gemeinsamen Methodenkoffers. Damit rückt auch das Projektmanagement zunehmend in den Fokus der Rechtsabteilung. Inspiration und Unterstützung bei der Anpassung an ihre besonderen Bedürfnisse kann sie bei Abteilungen finden, die bereits über mehr Erfahrungen auf dem Gebiet verfügen. Wenn sich die Rechtsabteilung hierauf einlässt, wächst sie weiter in das Unternehmen hinein.
DIE AUTOREN


Anne Graue und Dr. Daniel Halft arbeiten als Inhouse bzw. General Counsel in Rechtsabteilungen der Automobil- und IT-/E-Commerce-Branche. Zudem sind sie Co- Founder von dot.law – einem Beratungsunternehmen für digitale Transformation & Legal Innovation. Sie kennen daher sowohl die Inhouse- als auch die Beraterperspektive.

Gabriel Bärenz ist Senior Legal Counsel und baut seit Oktober 2019 das Legal Operations Team der ING Deutschland mit auf. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Digitalisierung von juristischen Workflows und kennt, neben den regulatorischen Anforderungen an die ITInfrastruktur einer Bank, insbesondere auch die praktischen Schwierigkeiten und Fallstricke, die es bei der Einführung neuer Technologien gibt.