General Counsel müssen nicht jeden Hype mitmachen

Rechtsanwälte haben heute mehr Möglichkeiten denn je, ihre Arbeit zu digitalisieren und zu optimieren, sei es durch Tools zur Dokumentenanalyse, digitale Lösungen für effizientes Wissensmanagement oder ganz aktuell generative KI. Die Fülle der Angebote zwingt jedoch zur Priorisierung. Einfach gefragt: Wie viel Digitaltechnik braucht die Rechtsabteilung?
vom 11. November 2024
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Am 30. November 2022 gab das amerikanische Softwareunternehmen OpenAI die mit Hunderten von Milliarden Parametern trainierte neueste Version seines Chatbots GPT-3.5, bekannt als ChatGPT, kostenlos für die Öffentlichkeit frei. Innerhalb von nur fünf Tagen registrierte sich weltweit eine Million Nutzer. Drei Monate hatten mehr als 100 Millionen Menschen ChatGPT mindestens einmal ausprobiert. Im Februar 2023, just als ein Volt-Abgeordneter im Europa-Parlament die erste komplett von ChatGPT geschriebene Rede hielt, befragten zwei New Yorker Anwälte die Wunderkugel nach Präzedenzfällen zu einem bestimmten Sachverhalt. ChatGPT fiel dazu nichts Besseres ein, als sich selbst etwas auszudenken („halluzinieren“). Die Sache kam ans Licht, die Juristen wurden wegen versuchter Täuschung bestraft, und den ersten Usern dämmerte, dass technischer Intelligenz nach wie vor mit menschlichen Zweifeln begegnet werden sollte. Das ist keine neue Erkenntnis. Denn aggressiv vermarktete technologische Neuerungen werfen stets die Frage auf, ob es sich um eine Luftblase handelt, für die man besser keine Firmengelder verschleudert, oder ob dieses Mal tatsächlich eine essenzielle Innovation auf den Markt drängt, ohne die man am Ende dumm dasteht und sich vorwerfen lassen muss, den technologischen Anschluss verpasst zu haben. David J. Deutsch, Leiter der Konzernabteilung Recht beim Infrastrukturkonzern Hochtief in Essen, kennt den Glaubenszwiespalt bei angeblichen informationstechnischen Must-haves. „Traditionell arbeiten in der Rechtsabteilung nicht die IT-Enthusiasten“, weiß der Syndikusrechtsanwalt. „Seit sechs, sieben Jahren bringen immer mehr Anbieter Lösungen auf den Markt für vermeintliche Probleme von Kanzleien und Rechtsabteilungen. Juristen werden ständig mit neuen Angeboten konfrontiert und kommen praktisch nicht mehr umhin, sich damit auseinandersetzen.“ Kaum anders als vor 150 Jahren: Hereinspaziert, so etwas haben Sie noch nie gesehen, greifen Sie zu. „Es sind ja auch wirklich innovative Produkte dabei“, räumt Deutsch ein. „Aber nicht alles hat einen praktischen Nutzen für jede Rechtsabteilung.“ So wie es aktuell mit der künstlichen Intelligenz ist. Muss etwa jedes neu zur Anschaffung empfohlene Softwaretool KI-gestützt sein? Der Anwalt schüttelt mit Nachdruck den Kopf: Nein. Für Legal Offices mit sehr großen Datenbeständen, vielen Verträgen oder repetitiven Tätigkeiten sei die Investition in KI betriebswirtschaftlich geboten. Wessen Rechtsabteilung hingegen eher zu speziellen Fragen zurate gezogen werde, die nur ein Anwalt beantworten könne, dem nütze eine KI recht wenig. „Ich kaufe mir ja auch nicht immer das neue Mobiltelefon mit zwölf brandneuen Funktionen, wenn ich mit dem Teil nur telefoniere, Textnachrichten verschicke und hin und wieder ein Foto mache“, zieht Deutsch eine einleuchtende Parallele. „Natürlich kann die neueste Technik immer mehr als die alte. Aber die entscheidende Frage ist doch: Brauchen wir das wirklich in unserer Rechtsabteilung?“

Deutsch_David J

„Natürlich kann die neueste Technik immer mehr als die alte. Aber die entscheidende Frage ist doch: Brauchen wir das wirklich in unserer Rechtsabteilung?“

David Deutsch
Head of Corporate Department Legal,

Bauunternehmen Hochtief

Entlastung in der Administration

Für die zentrale Rechtsabteilung beim Energieversorger E.ON in Essen hat Dr. Niklas Rahlmeyer, Head of New Businesses, IP, Legal Operation and Services, die Antwort auf die Frage gefunden, ob jetzt alle Investitionen in KI umgelenkt werden sollten. Sie lautet, zumindest zum heutigen Zeitpunkt, ebenfalls: Nein. „Mit den juristischen Kernaufgaben tut sich die KI noch schwer“, sagt er. „Die schreibt mir keinen guten Schriftsatz für den Gerichtsprozess.“ KI könne aber bei der Entlastung von den administrativen Tätigkeiten helfen. Hier möge man die Entwicklung gut beobachten und offen sein für das, was in den nächsten Jahren angeboten werde. Eines hieße das aber ganz bestimmt nicht: Hinter jedem Hype her zu rennen. Zumal viele neue IT-Komponenten, ob Hardware, Software oder das Netzwerk betreffend, nach der Implementierung isoliert von der vorhandenen IT-Landschaft stehen. Manches muss, oft in wochenlanger Kleinarbeit, angepasst werden. Anderes verweigert sich sogar jeglicher Integration in die unternehmenseigene Datenverarbeitung, verlangt die Einrichtung und Konservierung spezifischer Datenbanken, nutzt esoterische Protokolle und steht der Programmierung von Schnittstellen genuin feindlich gegenüber. Das bedeutet nicht nur Zeitverlust und Kosten, sondern auch eine Menge Arbeit für diejenigen, die mit dem neuen Tool arbeiten sollen. Die Folge: Sofern sich nicht ein pflegebereiter Liebhaber findet, bleibt es irgendwann ungenutzt in der Ecke liegen. Beispiel Dokumentenmanagement: Man kann sich eine teure Lösung kaufen und dort alle Dokumente speichern. Die sind dann nur dem Anwalt zugänglich und müssen, um mit einer anderen Software weiterbearbeitet werden zu können, mühsam dorthin transportiert werden – sofern das überhaupt möglich ist. Man nennt das eine Insellösung. Das bedeute keineswegs, versichert David Deutsch, dass Speziallösungen per se nutzlos seien. „Aber zuerst nach einer Standardlösung zu suchen und das auch als festen Prozessschritt bei der weiteren Digitalisierung der Rechtsabteilung vorzusehen, hilft unglaublich bei der Einführung und bei der Akzeptanz durch die Mitarbeiter. Sonst heißt es nämlich bald: Obacht, der Chef hat wieder ein neues Spielzeug entdeckt – gibt es, brauchen wir, kaufen wir.“ IT löse nicht alle Probleme, weiß Deutsch und warnt vor blinder Begeisterung für jeden neuen Technik-Hype. „Mit der Haltung, wir kaufen erst IT ein und suchen dann ein dazu passendes Problem, kommt man nicht weit.“

Rahlmeyer_Dr. Niklas

„Keine Einzellösungen von unterschiedlichen Anbietern, bei der keine
zur anderen passt, sondern aufeinander aufbauende Lösungen im Rahmen eines IT-Ökosystems.“

Dr. Niklas Rahlmeyer
Head of New Businesses, IP, Legal Operation and Services,
Energieversorger E.ON

Was wirklich notwendig ist

Kann man wenigstens eine Liste mit zwingend notwendigen („Must-haves“) und mit wünschenswerten („Nice-to-haves“) IT-Komponenten erstellen, anhand dessen die Leiter Recht die Ausstattung ihrer Abteilung überprüfen können? Rechtsanwalt Deutsch bedauert: „Ein Wohnungsbauunternehmen mit Tausenden von Mietobjekten braucht im Legal Office eine andere IT-Ausstattung als die Abteilung Recht eines mittelständischen Pharmaunternehmens. Was und wie viel Technik Firmenanwälte brauchen, hängt vom Unternehmen ab und von den Aufgaben der Rechtsabteilung.“ Als üblicherweise von beidem abgeleitet ist die Größe der Rechtsabteilung, gemessen an der Zahl der dort Beschäftigten, kein Argument für ungezügelte Hard- und Softwareanreicherung. Wenn viele Menschen viele unterschiedliche Aufgaben bewältigen, ist eine Standardisierungslösung gar nicht so hilfreich. Niklas Rahlmeyer von E.ON rät zudem entschieden davon ab, einen digitalen Flickenteppich auszurollen. „Also keine zehn Einzellösungen von unterschiedlichen Anbietern, bei der keine zur anderen passt, sondern aufeinander aufbauende Lösungen im Rahmen eines IT-Ökosystems.“ Damit, so räumt er ein, mache man sich gegebenenfalls zwar von einem Hersteller abhängig. „Aber das damit verbundene Risiko ist längst nicht so groß wie die Gefahr, die der Wildwuchs proprietärer Systeme mit sich bringt.“ Zudem könne das Risiko minimiert werden, wenn man auf Eigenentwicklungen setze. Die Präambel bei jedem Audit der IT-Landschaft in der Rechtsabteilung möge lauten, legt Rahlmeyer seinen Kollegen ans Herz: „Welche Software verwenden wir im Konzern, und was davon kann ich sinnvollerweise nutzen, weil ich nur wenig auf meine Bedürfnisse anpassen muss?“ Man brauche nicht für jedes Problem eine neue Technologie und damit im Zweifel einen neuen Anbieter. Effektiver sei es, zu schauen, wo man etwas ohnehin Vorhandenes zu einem neuen Zweck nutzen („Repurpose“) oder mit geringem Aufwand modernisieren kann („Upgrade“). Von David Deutsch kommt kein Einspruch, sondern nur eine Ergänzung: „Im Vorfeld muss ich mir überlegen: Was genau ist mein Problem? Welchen Schmerzpunkt will ich behandeln?“ Um dann zu schauen, ob es möglichweise im Unternehmen bereits Software gibt, die helfen kann, das Problem zu lösen. „Wir ziehen die Entscheidung ‚Make or buy?‘ nach vorne und kaufen nur dann, wenn wir etwas, das wir benötigen, nicht im eigenen Haus haben. Wenn wir solche Software haben, prüfen wir, ob wir sie für unsere Aufgaben verändern müssen und können. Erst wenn das nicht oder in keinem vernünftigen Zeit- und Kostenrahmen möglich ist, gehen wir zielgerichtet auf den Markt zu und kaufen Spezialsoftware dazu.“ Dazu zwinge schon die betriebswirtschaftliche Logik. Budgetrestriktionen dürften hingegen nicht zum Totschlagargument werden. „Brauchbare KI-Anwendungen wie ChatGPT kamen erst letztes Jahr auf den Markt“, erinnert der Leiter Recht von Hochtief. „Niemand hatte dafür eine Budgetposition eingestellt. Die Budgetplanung muss also so flexibel sein, dass man etwas Sinnvolles dazukaufen kann.“ Abgesehen davon sei es nur vernünftig, sich bei neuen Bedarfen oder beim Einkauf von umworbenen Novitäten von der hauseigenen IT beraten zu lassen. Deutsch: „Wenn ich nicht mit den Kollegen spreche, erfahre ich auch nichts von unseren vorhandenen oder geplanten Lösungen.“

 

 

Auf den Input kommt es an

Wer glaubt, die fortwährend mit neuen Web-Inhalten gemästete Chatbot-Technik ersetze eines Tages die Kommunikation unter Menschen, wird bei Niklas Rahlmeyer keine Zustimmung finden. „KI unterstützt die juristische Kompetenz ungemein“, sagt er. „Zugleich gibt es überall Dashboards, auf denen es blinkt und glitzert. Aber es kommt in erster Linie auf den Input an, nämlich auf die Quantität und die Qualität der Daten, auf denen die Dashboards basieren. Man braucht gute Schnittstellen zu den Abteilungen, die diese Daten liefern, also zum Accounting, zu den Kanzleien, zur Buchhaltung, um den Wert der Software für die Rechtsabteilung zu ermessen.“ Und da stelle sich dann die Machtfrage, die keine künstliche Intelligenz beantworten kann: „Welche Power hat die Rechtsabteilung, um die Zurverfügungstellung dessen durchzusetzen, was sie für ihre Arbeit braucht?“ Hier ist haben nun wirklich besser als brauchen. ■ Christine Demmer

Beitrag von Alexander Pradka

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