Im vergangenen Jahr kam es bei einer Online-Konferenz der Redaktion einer bekannten deutschen Tageszeitung zu folgendem Vorfall: Eine junge Kollegin hatte gerade einen kurzen Vortrag gehalten, als einer der zugeschalteten Redakteure sie als „heiße Schnecke“ bezeichnete. Er hatte schlicht vergessen, dass sein Mikrofon eingeschaltet war und alle Kollegen diese Worte mitbekamen. Während in der Konferenz selbst noch nichts dazu gesagt wurde, beschwerte sich die Kollegin anschließend bei der Redaktionsleitung. Die forderte den Kommentator auf, sich bei ihr zu entschuldigen, darüber hinaus wurde er abgemahnt. Die Reaktion im Kollegenkreis fiel unterschiedlich aus. Während einige die Formulierung als Kompliment verstanden und für unkritisch hielten, sahen andere darin einen Fall von verbaler sexueller Belästigung, die zu Recht geahndet worden sei. Vorfälle wie diese kommen in Unternehmen nicht selten vor. Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gab jede elfte erwerbstätige Person an, zwischen 2016 und 2019 am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden zu sein. Frauen waren mit einem Anteil von 13 Prozent mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. Etwas mehr als die Hälfte der Belästigungen gingen von Firmenexternen aus. Bei 43 Prozent der belästigten Personen handelte es sich um Kollegen, bei 19 Prozent waren es Vorgesetzte oder betrieblich höhergestellte Personen. Der Studie zufolge wurden von den Betroffenen am häufigsten verbale Belästigungen wie sexuelle Kommentare oder Belästigungen durch Blicke und Gesten genannt. Unerwünschte Berührungen oder körperliche Annäherungen beklagten 26 Prozent. „Da Delikte innerhalb eines Arbeitsverhältnisses oft nur mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen verbunden sind und nicht zur Anzeige gebracht werden, gibt es keine offiziellen Statistiken der Polizei“, erklärt Dr. Michael R. Fausel, Rechtsanwalt und Partner bei der auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzlei Bluedex in Frankfurt am Main. „Obwohl spezifische Zahlen zur Häufigkeit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz fehlen, deuten verschiedene Studien darauf hin, dass dieses Problem auch heute noch weit verbreitet ist“, sagt Fausel. Insbesondere Beschäftigte im Gastgewerbe und in der Unterhaltungsindustrie berichten von einschlägigen Erfahrungen. Verbale und physische Gewalt, wie sich Mobbing, Schikane und körperliche Gewalt zusammenfassen lassen, treten ähnlich oft auf wie sexuelle Belästigung. Das Fehlverhalten reicht dabei von der systematischen Ausgrenzung oder Schikane von Kollegen über die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Religion, Sexualität oder Alter bis hin zur Diffamierung oder Rufschädigung im Unternehmen. „Hiervon betroffen sind alle Branchen, insbesondere jedoch Großunternehmen. Zudem werden von den Tätern häufig hierarchische Strukturen im Unternehmen ausgenutzt“, weiß Fausel. Aus einer 2025 veröffentlichten Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales geht hervor, dass 6,5 Prozent der befragten Erwerbstätigen schon einmal systematisches Mobbing am Arbeitsplatz durch Kollegen oder Vorgesetzte erlebt haben.

„Schulungen zu ethischen Verhalten fördern das Bewusstsein für Integrität und Verantwortung, während sie zugleich Mitarbeitende für wichtige Unternehmensregelungen sensibilisieren.“
Hilal Akyüz
Expertin für Compliance Investigations,
Robert Bosch GmbH
Verschiedene Delikte
Fehlverhalten auf der persönlichen Ebene ist aber nur ein Aspekt, bei dem General Counsel und die Rechtsabteilung auf der Hut sein müssen. Vergehen gegen fremdes Eigentum gehören ebenso wie Betrug und Korruption zu den Delikten, die Unternehmen erhebliche Schäden zufügen können. „Das kommt sehr häufig vor, insbesondere in Unternehmen mit unzureichender interner Kontrolle“, weiß Fausel. „Beispiele sind der Diebstahl von Firmeneigentum wie Büromaterial, IT-Geräten oder anderen Produkten sowie die Unterschlagung von Firmengeldern oder die Manipulation von Spesenabrechnungen.“ Diese Art von Delikten findet sich bevorzugt im Einzelhandel, der Logistik und im Finanzwesen. Offizielle Zahlen über die Häufigkeit von Diebstählen am Arbeitsplatz gibt es, ähnlich wie bei sexueller Belästigung, jedoch nicht. Die Polizeiliche Kriminalstatistik veröffentlicht nur allgemeine Daten zu Diebstahl und Betrug. Es gilt jedoch als offenes Geheimnis, dass solche Straftaten auch in Unternehmen oft genug vorkommen. Die Gesellschaft für Konsumgüterforschung geht davon aus, dass jeder vierte deutsche Arbeitnehmer schon einmal etwas aus dem Büro hat mitgehen lassen. Zu den am häufigsten gestohlenen Dingen gehören Stifte, gefolgt von Papier, Büro- und Heftklammern. Es wurden aber auch schon Bürostühle, Dekorationsartikel und Putzmittel einer Verwendung in Privathaushalten zugeführt. Auch wenn es sich in vielen Fällen nur um Gebrauchsgüter von überschaubarem Wert handelt, summiert sich der Gesamtschaden für die deutsche Wirtschaft aufgrund der Vielzahl der Vorfälle auf Milliardenhöhe. Das gilt erst recht bei internem Abrechnungsbetrug, Bestechung oder der Manipulation von Geschäftszahlen. Diese Straftaten kommen regelmäßig vor, und bei geschickter Vorgehensweise der Täter sind sie nur schwer aufzudecken. Ebenso wie die Vortäuschung von Krankheiten, die Manipulation der Arbeitszeiterfassung oder die unerlaubte private Nutzung von Firmenwagen. Geschäftsführung und General Counsel können und müssen sowohl gegen finanzielle Schäden als auch gegen individuelles Fehlverhalten vorgehen, um es im Idealfall zu verhindern oder die Täter wenigstens im Nachhinein zur Verantwortung ziehen zu können. Hilal Akyüz, Expertin für Compliance Investigations bei Bosch in Stuttgart, empfiehlt klare Richtlinien und Trainings durch die Rechts-, Compliance- sowie Personalabteilung. „Insbesondere Schulungen zu ethischem Verhalten fördern das Bewusstsein für Integrität und Verantwortung und machen die Mitarbeitenden mit den wichtigsten Unternehmensregelungen, zum Beispiel einem Code of Conduct, vertraut.“ Das sorge für ein starkes ethisches Fundament im Unternehmen. Ein vertrauensvolles Arbeitsklima entstehe dann, wenn Führungskräfte als Vorbild vorangehen. Der „Tone from the top“ mit einer regelmäßigen und unmissverständlichen Kommunikation zeichne vor allem eine werteorientierte Unternehmenskultur aus, in der ethisches und regulatorisches Fehlverhalten keinen Platz habe. Ein respektvoller Umgang und die Wertschätzung der Mitarbeitenden sind laut Akyüz die Basis, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Beschäftigte ermutigt fühlen, Fehlverhalten anzusprechen. Seit dem Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG) am 2. Juli 2023 sind Unternehmen ab 50 Mitarbeitern verpflichtet, ein vertrauliches Meldesystem einzurichten. In Branchen wie dem Finanz- und Versicherungssektor ist dies bereits ab dem ersten Beschäftigten erforderlich. Paragraph 16 Absatz 1 des HinSchG schreibt vor, dass die internen Meldekanäle mindestens den eigenen Beschäftigten sowie Leiharbeitnehmern, die dem Unternehmen überlassen sind, offenstehen müssen. Die zur Einrichtung verpflichteten Unternehmen können darüber hinaus selbst entscheiden, ob das Meldeverfahren auch weiteren Personen, die im Kontakt zum Unternehmen stehen, offenstehen soll. „Die Compliance-Abteilung kann gerade für sensible Bereiche eine Risikoanalyse durchführen und entsprechende Maßnahmen treffen, um Fehlverhalten zu verhindern“, erläutert Bluedex-Partner Fausel. „Denkbar wären beispielsweise Dienstanweisungen und Betriebsvereinbarungen, aber auch das Vier-Augen-Prinzip und Personalrotation in sensiblen Bereichen.“ Wer Zugang zu wichtigen Daten oder Gütern im Unternehmen hat, gerät leichter in Versuchung, diese gegen Bestechung an Dritte weiterzuleiten. Für verhindernde Maßnahmen sowie die Durchführung von Schulungen, die Schaffung von sicheren Meldesystemen und die Unterstützung einer offenen Unternehmenskultur hält Fausel die Zusammenarbeit von Rechts-, Compliance- und Personalabteilung für entscheidend.

„Die Compliance-Abteilung kann gerade für sensible Bereiche eine Risikoanalyse durchführen und entsprechende Maßnahmen treffen,
um Fehlverhalten zu verhindern.“
Dr. Michael R. Fausel
Partner,
Bluedex
Bei konkreten Verdachtsfällen von Fehlverhalten sind die Objektivität des Verfahrens, die Sicherung von Beweisen, die Dokumentation des Untersuchungsprozesses sowie die Einhaltung der Rechtsvorschriften bei der Aufklärung und die rechtzeitige Information der Geschäftsführung notwendig. Die Verhinderung von Beweisvernichtung macht einerseits die schnelle Sicherung relevanter Daten erforderlich, außerdem müssen die rechtliche Zulässigkeit ihrer Beschlagnahme sichergestellt und Beschäftigte über die Konsequenzen einer Vernichtung von Beweismaterial informiert werden. Die Mitarbeiter der Rechts-, Compliance- und Personalabteilung, die mit der Prüfung von Verdachtsfällen beauftragt sind, sollten deshalb regelmäßig weitergebildet werden, damit sie über die aktuell notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Dem General Counsel kommt bei internen Ermittlungen als wichtige Aufgabe zu sicherzustellen, dass die weiteren Verfahrensschritte den rechtlichen Vorschriften von Arbeitsrecht, Datenschutz und Hinweisgeberschutzgesetz entsprechen. Unabhängig davon, ob interne oder externe Personen in die Untersuchung mit einbezogen werden, ist ein striktes Need-to-know-Prinzip einzuhalten. So lassen sich am ehesten die Vorverurteilung oder Rufschädigung der betroffenen Personen sowie die Offenlegung eines Hinweisgebers vermeiden. Eingehende Hinweise gilt es gründlich zu untersuchen und dabei sowohl belastende als auch entlastende Faktoren zu berücksichtigen. Besonders wichtig ist es, soweit möglich, dass die Personalabteilung Gespräche mit den betroffenen Beschäftigten führt, um ihre Perspektive zu berücksichtigen, Missverständnisse zu klären und das Vertrauen in den Untersuchungsprozess zu fördern. „Eindeutige Richtlinien für die Durchführung einer internen Untersuchung und die Einhaltung eines Vier-Augen-Prinzips im Rahmen von Interviews sind wichtig, damit ein Betrieb einen Untersuchungsprozess strukturiert und objektiv ablaufen lassen kann“, erklärt Hilal Akyüz. Die an der internen Untersuchung beteiligten Mitarbeiter sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Unschuldsvermutung nicht nur vor Gericht, sondern schon bei der Klärung des Sachverhalts im Unternehmen gilt. Etwaige persönliche Interessenkonflikte der mit der Untersuchung Beauftragten müssen diese unverzüglich und proaktiv offenlegen. Die Geschäftsleitung sollte kontinuierlich über den Fortschritt der Untersuchungen informiert werden. „Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen und der Geschäftsführung muss dabei vertraulich und diskret ablaufen, um eine Rufschädigung des betroffenen Mitarbeiters zu verhindern“, sagt Michael Fausel. „Weil die Geschäftsleitung die Gesamtverantwortung trägt, muss sie auch die strategischen Maßnahmen treffen, etwa die Kommunikation mit externen Stellen.“ Sollte sich der Verdacht am Ende der internen Untersuchung bestätigen, ist es die Aufgabe der Geschäftsleitung, in Abstimmung mit der Rechts- und der Personalabteilung, die nächsten Schritte zu entscheiden. Das interne Untersuchungsteam kann lediglich Maßnahmen empfehlen, die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Umsetzung von arbeitsrechtlichen Maßnahmen selbst müssen die Verantwortlichen im Unternehmen schon selbst treffen. Das reicht von disziplinarischen Maßnahmen über die Kündigung des Arbeitsverhältnisses bis zur Erstattung einer Strafanzeige. ■ Christoph Neuschäffer