Jus-Studenten lernen: Produkt- und Produzentenhaftung sind nicht dasselbe. Die Produkthaftung ist eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung nach dem Produkthaftungsgesetz, während sich die Produzentenhaftung nach § 823 BGB richtet. Weil Produkthaftung und Produzentenhaftung jedoch in Anspruchskonkurrenz nebeneinander bestehen (§ 15 II ProdHaftG), schließt die Produkthaftung eine Haftung nach § 823 BGB zwar nicht aus, wird aber als verschuldensunabhängige Anspruchsgrundlage vor § 823 BGB geprüft. In Klausuren ist das Produkthaftungsgesetz gut zu handhaben, weil sich viel aus dem Gesetz herauslesen lässt. In der juristischen Praxis, in der es meist um die Ansprüche der Geschädigten geht, wird es schon kniffliger. Noch dazu steht die Novellierung des Produkthaftungsgesetzes ins Haus: Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie ist seit dem 8. Dezember 2024 in Kraft und muss bis spätestens 9. Dezember 2026 in nationales Recht umgesetzt werden. Ziel der Richtlinie ist es, die Produktsicherheit in einer digitalisierten Welt zu erhöhen.
Sie bringt weitreichende Änderungen für Unternehmen mit sich: Der Kreis der Haftenden wird ebenso erweitert wie die Begriffe „Produkt“ und „Fehler“, die Begrenzung der Haftungssummen fällt weg, und alle Unternehmen müssen im Rahmen von Haftungsprozessen auf Antrag der Geschädigten Geschäftsunterlagen wie Konstruktionsunterlagen oder Erkenntnisse aus der Produktbeobachtung offenlegen, wenn sie den Produkthaftungsprozess nicht verlieren wollen. Damit wird die Beweislast quasi umgekehrt. Das zwingt insbesondere die Anbieter von hochriskanten Produkten – zum Beispiel Medizintechnik-Unternehmen, Start-ups im Bereich Digital Health, Entwickler von KI-Systemen – zu verschärfter Risikovorsorge. Vor dem Hintergrund der ständig ausgeweiteten Regulatorik zeichnet sich ein wachsendes Aufgabenfeld für die Rechtsabteilung ab. „In den letzten Jahren wurden sehr viele neue EU-Verordnungen erlassen“, sagt Dr. Manuela Martin, Spezialistin für Produkt-Compliance und Partnerin bei RSM Ebner Stolz in Stuttgart. Früher hatte sich die EU auf Richtlinien beschränkt, die inhaltlich folgend, aber nicht gleichlautend in das nationale Recht umgesetzt werden müssen. Um die Jurisdiktionen in der Gemeinschaft zu vereinheitlichen, erlässt die EU mehr und mehr Verordnungen, die europaweit direkt und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten. Es gibt gute Gründe für den Gesetzesschwall. „Weil die Arbeitsteilung voranschreitet, weil die Produkte technisch komplexer und digitaler werden und weil sie KI-Elemente enthalten“, zählt die Rechtsanwältin auf und verweist auf die neuen Vorschriften zur Produkthaftung und zur Produktsicherheit, auf die Ökodesign-VO und auf die KI-VO. Verschärft wurden auch die Regeln bei Cybersicherheit, im Chemikalienrecht und bei der Lieferkette. Und dann sind da noch die ESG-Kriterien. „Die Regelungen nehmen auch zu im Bereich der Nachhaltigkeit von Produkten, deren umweltfreundliche Entsorgung und Wiederverwertbarkeit“, ergänzt Martin. Als Folge der Regulierung müsse man nun bei jedem Produkt auf mehrere Kategorien achten. „Bei der Produktsicherheit muss man im Grunde alles beachten“, weiß Martin. „Man darf grundsätzlich nur für den Verbraucher sichere Produkte auf den Markt bringen. Man muss also nicht nur vorhersehen, was der Kunde normalerweise mit dem Gerät macht, sondern auch naheliegenden Fehlgebrauch mitdenken. Das ist ein Grundsatz bei der Produktsicherheit.“

„Über Präventionsmaßnahmen entscheiden Legal, Compliance, Risk Management und die betroffenen Fachabteilungen gemeinsam in unterschiedlicher Ausprägung.“
Dr. Christian Piovano
Syndikusanwalt,
ZF Group
Effektives internes Risikomanagement
Kein Hersteller will sich und seine Investoren dem Risiko aussetzen, Schadenersatz in astronomischer Höhe leisten zu müssen. Daher ist insbesondere bei Unternehmen, die Produkte mit erhöhtem Risiko herstellen, das Risikomanagement zu einer immens wichtigen Stellschraube des wirtschaftlichen Erfolgs geworden. Die oberste Regel lautet: Alle regulatorischen Vorgaben einhalten. Davon leitet Dr. Christian Piovano, Syndikusrechtsanwalt bei der ZF Group in Friedrichshafen, seine Empfehlung ab: „Bei Produkten und Dienstleistungen mit erhöhtem Risikoprofil sollte ein effektives internes Risikomanagement eingerichtet sein, um produktbezogene Risiken im Feld möglichst frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen.“ Dazu gehöre eine engmaschige Kontrolle und Überwachung der Produktion, gegebenenfalls auch bei den Zulieferern, sowie eine regelmäßige Aktualisierung der Standards nach dem Stand der Technik und angemessene Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Produktbeobachtung. „Darüber hinaus sollten klare Prozesse und Krisenmanagementpläne entwickelt und gelebt sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelmäßig darin geschult werden.“ Bei diesen Maßnahmen könnten technologische Lösungen, zum Beispiel der Einsatz von KI-Systemen, als wirkungsvolle Unterstützungsinstrumente eingesetzt werden. Bei besonders risikobehafteten Produkten stehe regelmäßig auch ein erhöhter Maßstab an die Sorgfaltspflichten im Raum, und der sei sowohl von Produzenten als auch vom Handel anzulegen. Piovano: „Aus Sicht des Produktsicherheits- und Produkthaftungsrechts trifft den reinen Händler zwar keine Konstruktions- und Fertigungsverantwortung. Sofern der Händler jedoch konkrete Anhaltspunkte für die Gefährlichkeit der von ihm vertriebenen Produkte hat, muss er den Vertrieb einstellen und den Hersteller sowie gegebenenfalls die zuständigen Marktüberwachungsbehörden und Kunden informieren. Umgekehrt sollten Hersteller die Händler über Produktrisiken informieren, die sie im Rahmen des Claim Managements oder der Produktbeobachtung erhalten.“ Es sei daher empfehlenswert, dass einerseits die Hersteller die Händler kennen, die ihre Produkte vertreiben, und dass andererseits ein schneller und transparenter Informationsfluss zwischen Hersteller und Händlern stattfindet.

„Produktsicherheit ist ein Schnittstellenthema. Das Business kennt die Produktdetails. Nur die Rechtsabteilung kann sagen, ob die Vorschriften eingehalten werden.“
Dr. Manuela Martin
Partnerin,
RSM Ebner Stolz
Interdisziplinäres Vorgehen
Schon die Produzenten müssen zahlreiche Regularien beachten. Für die ZF Group, die weltweit und in einer Vielzahl von Branchen tätig ist, liefert Syndikus Piovano, der auch als Of Counsel sein spezifisches Know-how insbesondere bei Mandaten im Zusammenhang mit smarten Produkten, der Digitalisierung und dem Akkreditierungs- und Zertifizierungsrecht einbringt, einen knappen Überblick: „Zu den produktrechtlichen Regularien zählen beispielsweise die automotivespezifischen Regelungen im Zusammenhang mit dem Typgenehmigungsrecht, die unter anderen von der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) aufgestellt werden, in weiteren Geschäftsfeldern die CE-Harmonisierungsvorschriften in Europa und im Aftermarket-Bereich auch verbraucherschutzrechtliche Regelungen wie beispielsweise die Verordnung (EU) 2023/988 (GPSR).
Ein neues Regulierungsfeld ist die zunehmende internationale Gesetzgebung im Zusammenhang mit Cybersicherheit, KI und Daten, die wir genau beobachten und erforderlichenfalls in unsere Governance-Systeme integrieren.“ Je nach Fachgebiet liegt die Steuerung des rechtlichen Risikomanagements bei ZF im Wesentlichen bei der Rechtsabteilung und bei der Compliance-Abteilung. „Beide arbeiten und entscheiden in enger Abstimmung mit den jeweils betroffenen Fachabteilungen und dem Management“, sagt der Produktsicherheitsexperte. In Kanzleien tätige Rechtsanwälte bestätigen das als branchenübergreifend übliches Vorgehen. „Wenn das Produkt im Markt eingeführt ist, ist es ein Zusammenspiel zwischen der Fachabteilung und der Rechtsabteilung“, sagt Manuela Martin. „Am Ende, wenn etwas schiefgeht im Markt, wenn die Produkte beim Kunden sind, kommen die Probleme über den Kundendienst oder die Rechtsabteilung herein. Die Kollegen gehen dann zur Klärung der Sachverhalte auf die Fachabteilung zu.“ Mit Ausnahme der Pharmabranche halte kaum ein Hersteller einen organisatorischen Bereich Risikomanagement vor. Bei ZF gebe es sehr wohl eine dezidierte Risk Management Abteilung, stellt Christian Piovano klar. „Diese ist in die jeweiligen Tätigkeiten je nach Fachfrage eingebunden.“ Und wer entscheidet über Präventionsmaßnahmen? In welchem Maß dürfen die Unternehmensrechtsanwälte hier mitreden oder sogar Vorgaben erteilen? Christian Piovano: „Da rechtliche Risiken nicht isoliert betrachtet werden können, entscheiden über Präventionsmaßnahmen die Abteilungen Legal, Compliance, Risk Management und die betroffenen Fachabteilungen gemeinsam in unterschiedlicher Ausprägung.“ Auch hier komme es auf die jeweilige Fachfrage an. „Fällt sie beispielsweise hauptsächlich in den Verantwortungsbereich der Compliance-Abteilung, dann entscheidet Compliance gemeinsam mit dem Management nach Konsultation mit der Rechtsabteilung und den betroffenen Fachabteilungen. Die Unternehmensrechtsanwälte haben hierbei eine zentrale Rolle, insbesondere wenn es um die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften geht.“ Rechtsanwältin Manuela Martin nickt dazu; sie hält ein enges Zusammenspiel zwischen Legal und Business unbedingt für geboten: „Produktsicherheit ist ein Schnittstellenthema. Die Rechtsabteilung kennt normalerweise nur die gesetzlichen Vorschriften, das Business kennt die Produktdetails. Nur die Rechtsabteilung kann sagen, ob die Vorschriften eingehalten werden.“ Konflikte seien hierbei nicht ausgeschlossen: „Es kann sein, dass manche Risiken unterschiedlich beurteilt werden.“
Beratung ab Produktidee
Rechtliche Klarheit ab der ersten Idee für ein neues Produkt lässt sich herstellen, wenn die Unternehmensanwälte bereits bei der Produktentwicklung und Markteinführung beratend eingebunden wären. Nur so kann die Rechtsabteilung gewährleisten, dass Produkte den geltenden Vorschriften entsprechen und Haftungsrisiken weitgehend ausgeschlossen sind. Zu den Best Practices gehören die proaktive Risikoerkennung, die regelmäßige Aktualisierung von Strategien, basierend auf Änderungen im rechtlichen Umfeld, der Einsatz von Technologie zur Verbesserung der Effizienz sowie die Dokumentation von Prozessen zur klaren Festlegung von Verantwortlichkeiten. Doch das ist leider nicht die Regel. „Wenn wir eingeschaltet werden, wurde die Rechtsabteilung schon vom Business um die juristische Einschätzung gebeten“, schildert Manuela Martin von der Kanzlei Ebner Stolz die Abfolge. Daraus könne man schließen, dass die Rechtsabteilung bei der Produktentwicklung in der Regel noch nicht eingeschaltet war. „Es wird natürlich schwierig, wenn jede neue Produktidee zusammen mit den Juristen entwickelt wird“, räumt sie ein. Trotzdem macht sich die Juristin dafür stark: „Aus rechtlicher Sicht wäre es gut, wenn die Rechtsabteilung schon am Anfang involviert werden würde.“ Bei ZF in Friedrichshafen hat man den Ruf schon vor langer Zeit gehört. „Die Zusammenarbeit der Rechtsabteilung mit der Produktentwicklung, der Produktion und dem Vertrieb ist bei ZF eng und kontinuierlich“, sagt Christian Piovano. „Dies gilt sowohl für projektspezifische als auch für übergreifende, strategische Fragestellungen und Governance-Themen. Hierbei ist die juristische Kompetenz in hohem Maße gefragt und organisatorisch eingebunden. So stellen wir sicher, dass alle rechtlichen Anforderungen erfüllt und Risiken frühzeitig erkannt und reduziert werden.“ Der General Counsel als oberster Risikomanager: Alles in allem also ein idealer Job für Studierende der Jurisprudenz mit einem unwiderstehlichen Hang zur Gefahrenvermeidung.
■ Christine Demmer