Bei Arbeitsunfähigkeit ist Gesamtwürdigung aller Umstände entscheidend

Das Bundesarbeitsgericht war mit einem weiteren Streit um den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beschäftigt. Dieses Mal ging es um eine im Nicht-EU-Ausland ausgestellte Bescheinigung. Auch da kann nach Gesamtbetrachtung des Einzelfalls ein ernsthafter Zweifel am Beweiswert vorhanden sein.
vom 22. Januar 2025
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Das gilt nach den Ausführungen des BAG selbst dann, wenn an sich unverfängliche Umstände vorliegen. Das Gericht hält fest, dass grundsätzlich einer in einem Land außerhalb der Europäischen Union ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der gleiche Beweiswert zu wie dem Pendant in der Bundesrepublik zukommt. Sie muss dabei allerdings erkennen lassen, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat. Zusätzlich sei – wie dies auch bei Ausstellung einer AU-Bescheinigung innerhalb Deutschlands üblich ist – eine Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. In dem zu entscheidenden Fall hatte der Mitarbeiter schon in früheren Jahren Bescheinigungen im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub vorgelegt. 2022 verbrachte er seine freien Tage in Tunesien und teilte seiner Arbeitgeberin per Mail am 7. September mit, dass er bis zum 30. September krankgeschrieben sei.  

 

Gesamtwürdigung unterlassen

Das Attest stammte von einem französischsprachigen Arzt. Er bescheinigte, dass er den Mitarbeiter untersucht habe, dieser an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal leide, 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30. September benötige und er sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen dürfe. Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Mitarbeiter am 8. September ein Fährticket für den 29. September und reiste an diesem Tag mit seinem PKW mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober bescheinigt wurde. Der Mitarbeiter strebte mit seiner Klage Entgeltfortzahlung an. Das Arbeitsgericht lehnte das ab, das Landesarbeitsgericht München sprach ihm diese zu. Das Bundesarbeitsgericht führt nun aus, dass das LAG einzelne Aspekte isoliert betrachtet und die gebotene Gesamtwürdigung unterlassen habe. Der tunesische Arzt habe eine Arbeitsunfähigkeit von 24 Tagen bescheinigt, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Der Mitarbeiter habe bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots sich zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für einen zu frühen Zeitpunkt und trat die beschwerliche Reise an. Kaum zurück, legte er eine neuerliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass er bereits in früheren Jahren im direkten Zusammenhang mit Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt habe. Für sich betrachtet, könnte jeder Punkt unverfänglich sein, in der Gesamtschau seien aber Zweifel angebracht. Das Landesarbeitsgericht muss neu entscheiden – und den Mitarbeiter trifft die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch.  

 

Copyright Bild: Thanks to Elevate on Unsplash

Beitrag von Alexander Pradka

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