BAG stellt Weichen für neue Rechtsprechung in Massenentlassungsverfahren

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beabsichtigt, seine Rechtsprechung hinsichtlich einer im Zusammenhang mit Massenentlassungen stehenden Kündigung zu ändern. Bisher war eine solche Kündigung wegen Verstoßes gegen § 134 BGB unwirksam, wenn im Zeitpunkt der Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige an die Agentur für Arbeit erging.
vom 19. Dezember 2023
image

Da diesbezüglich eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des BAG seit dem 22. November 2012 besteht, stellte der Sechste Senat nun eine Anfrage, ob der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhält. Anhängige Verfahren sind bis zur Beantwortung ausgesetzt. Grundsätzlich sind die Anforderungen des Gesetzgebers an eine Massenentlassungsanzeige streng. Fehler im Verfahren führten nach bisheriger Rechtsprechung regelmäßig dazu, dass die ausgesprochenen Kündigungen keine Wirksamkeit entfalten konnten. In der Überzeugung, § 17 des Kündigungsschutzgesetzes unionsrechtskonform auszulegen, hat die Rechtsprechung nach und nach die Anforderungen sogar noch erhöht. Dann kam im Sommer dieses Jahres eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, in dem klagestellt wurde, dass die Massenentlassungsrichtlinie keinen Individualrechtsschutz verleiht. Unwirksamkeit und Nichtigkeit der Kündigung seien als zwingende Sanktion gerade nicht gewollt, sondern den Mitgliedsstaaten selbst überlassen.

Mehrere Sachverhalte betroffen

Im Vorlageverfahren, das vom Bundesarbeitsgericht initiiert wurde, ging es um die Frage, ob die Nichtweiterleitung der Betriebsratskonsultation an die Agentur für Arbeit im Vorfeld der Massenentlassung bereits als Verstoß mit individualrechtlichem Schutz gilt. Das hat der EuGH verneint. Die Behörde soll sich nicht mit dem Schicksal von einzelnen Arbeitnehmern beschäftigen, sondern die Massenentlassung allgemein betrachten und in ihrer Kenntnis der Sachlage die Vermeidung negativer Folgen vorbereiten. Der Sechste Senat will der Rechtsauffassung des fehlenden Individualrechtsschutzes Folge leisten. Das betrifft auch ein weiteres Verfahren, in dem der Mitarbeiter eines Unternehmens ohne Betriebsrat, das bis Herbst 2020 noch 25 Arbeitnehmer beschäftigte und kurz darauf pleite ging, geklagt hatte. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens legte der zum Verwalter bestellte Beklagte den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mindestens zehn Mitarbeitern, auch dem Kläger. In der Annahme, dieser habe es nicht bedurft, erstattete der Insolvenzverwalter zuvor aber keine Massenentlassungsanzeige. Zu jenem Zeitpunkt seien im Unternehmen weniger als 21 Mitarbeiter – die Schwelle zur Anzeigepflicht – beschäftigt gewesen. Das jedoch erwies sich als Fehleinschätzung. Das in § 17 Abs. 1 KSchG für die Ermittlung der erforderlichen personellen Betriebsstärke maßgebliche Merkmal „in der Regel“ enthält weder eine Stichtagsregelung noch verlangt es eine Durchschnittsbetrachtung. Bis zur Beantwortung der Divergenzanfrage an den Zweiten Senat sind die Verfahren ausgesetzt.    

 

Copyright Bild: IMAGO / imagebroker

 

Beitrag von Alexander Pradka

Dies könnte Sie auch interessieren

250408_News_Bankenkartell_mohamed-nohassi-unsplash
Hohe Bußgelder gegen sieben Investmentbanken
Der Europäische Gerichtshof hat im Fall des Bankenkartells bei europäischen Staatsanleihen im Wesentlichen den Beschluss der Kommission bestätigt und Bußgelder...
250404_News_Adidas Greenwashing_waqar-khalid-unsplash
Adidas: Irreführende Werbeaussagen zur Klimaneutralität
Das Landgericht Nürnberg-Fürth verurteilte den Sportartikelhersteller zur Unterlassung der Aussagen und Erstattung vorgerichtlicher Abmahngebühren. Adidas...
250401_News_BAG_Vesting_getty-images-unsplash
Virtuelle Optionsrechte: ESOP müssen Inhaltskontrolle standhalten
Optionsrechte und Mitarbeiterbeteiligungen sind ein legitimes und probates Mittel, um Angestellte länger an das Unternehmen zu binden. Die konkrete Ausgestaltung...