Deutschland hat einen Fachkräftemangel: 2024 waren durchschnittlich 701.490 freie Arbeitsstellen gemeldet, für die es an qualifizierten Fachkräften fehlt. Während dies in der Vergangenheit vor allem IT-ler, Ingenieure, Pflegekräfte und Lehrkräfte betraf, ließen zuletzt auch einige Meldungen aus der Justiz aufhorchen. So sieht etwa ein Sparprogramm in Nordrhein-Westfalen künftig 20 Prozent weniger Ausbildungsstellen für Referendare vor. Alarmierende Nachrichten gab es bereits zuvor etwa aus Hessen, wo die Einstellungskriterien für Staatsanwälte und Richter gelockert wurden. Seit 2022 sind hier statt zuvor noch 16 nur noch Punkte in beiden Staatsexamina erforderlich. Ein Grund: Beim Nachwuchs werden tendenziell sinkende Zahlen verzeichnet. Zwar schwankte die Zahl der Studienanfänger in den Rechtswissenschaften, etwa zwischen dem Wintersemester 2002/03 und 2023/24. Der Höchststand lag hier im Wintersemester 2017/18 bei 16.526 Studienanfängern. Seitdem sinkt die Zahl leicht – mit kleineren Schwankungen – auf zuletzt 13.896 im Wintersemester 2023/24. Ebenfalls volatil ist die Zahl der Studienanfänger im Wirtschaftsrecht. Hier wurde im Wintersemester 2011/12 mit 3.355 Studienanfängern der bisherige Höchststand erreicht. Seitdem gibt es ebenfalls einen Rückgang mit einem Zwischentief in den Jahren 2019/20 bis 2021/22, bevor die Zahlen im Jahr 2023/24 auf 2.899 wieder leicht anstiegen. Ähnlich ist es bei den Absolventenzahlen. Bei der Ersten Juristischen Staatsprüfung stieg deren Zahl bis 2017 auf 9.722 an, sank aber bis 2022 auf 8.765. Bei der Zweiten Juristischen Staatsprüfung wurden 2009 mit 9.347 und 2022 mit 8.414 Höchststände verzeichnet. Insgesamt wird allerdings in den vergangenen Jahren bei beiden Prüfungen ein leichter Rückgang verzeichnet. Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich bei den in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälten. Nachdem deren Zahl von 12.844 im Jahr 1950 bis 2000 auf über 104.000 gestiegen war, mit jährlichen Wachstumsraten von bis zu acht Prozent zwischen 1976 und 1999, hat sich das Wachstum seit 2010 deutlich verlangsamt. 2021 wurde sogar ein Rückgang verzeichnet. Nach zwei Jahren mit rückläufigen Zahlen gibt es 2024 nun wieder einen leichten Anstieg auf 165.776 Anwälte. „Den größten Anteil am Zuwachs haben allerdings die Berufsausübungsgesellschaften, die seit dem 1. August 2022 zulassungspflichtig sind“, erläutert die Leipziger Rechtsanwältin Sabine Fuhrmann. „Was wächst ist die Zahl der Syndikusrechtsanwälte“, so die Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Sachsen und Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK). Während es zum Stichtag 1. Januar 2023 noch 5.937 Syndizi gab, waren es ein Jahr zum Jahresbeginn 2024 mit 6.806 Syndikusrechtsanwälte deutliche 14,64 Prozent mehr. „Rechnet man diese Berufsausübungsgesellschaften heraus und betrachtet ausschließlich die natürlichen Personen, sind es nur noch knapp 140.000 Anwälte“, so die BRAK-Vizepräsidentin. „Die Zahlen sind also durchaus sehr rückläufig und werden schon aufgrund der demografischen Entwicklung weiter nach unten gehen.“ Zudem sind es nicht knapp 140.000 Vollzeitäqivalente, sondern deutlich weniger, da wir in der Statistik nur sehen können, wer eine Zulassung hat, nicht aber wie aktiv jemand ist“, erläutert Fuhrmann.
„Was wächst, ist die Zahl der Syndikusrechtsanwälte.“
Sabine Fuhrmann
Rechtsanwältin, Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Sachsen und Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK)
Nur noch Durchgangsstation
Diese Entwicklung sei auch erwartbar gewesen. „Weniger planbar ist die immer kürzere Verweildauer im Anwaltsberuf“, berichtet sie. Während dies früher meist eine Entscheidung fürs Leben gewesen sei, nutzen jüngere Kollegen die Anwaltschaft zum Teil nur noch als Durchgangsstation und geben dann schnell ihre Zulassung zurück. „Das beobachten wir insbesondere in den ersten fünf Jahren der Zulassung.“ Seit 2021 analysiert eine Arbeitsgruppe bei der BRAK diese Strukturen und Entwicklungen der Anwaltschaft. „Unser Ziel ist es, sowohl bei der Zulassung, ein bis drei Jahre danach, und beim Zulassungsverzicht nach den Gründen und Rahmenbedingungen zu fragen“, so die Vizepräsidentin. An Anwälten fehle es aber zum Teil nicht mehr nur in Nischenrechtsgebieten, sondern auch außerhalb der großen Städte. „Wir haben zum Beispiel in Görlitz keinen zugelassenen Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht mehr“, so Fuhrmann. Es sei daher sehr wichtig, den juristischen Nachwuchs in die Fläche zu bekommen, obwohl Angebote aus Großkanzleien und der Justiz sehr verlockend sind. Hinzu kommt ein weiteres Problem: „Über 80 Prozent der jungen Anwälte arbeiten angestellt, anders als früher wird die Selbstgründung zur Ausnahme. Daher geht auch die Zahl der Neugründungen zurück. Nur noch angestellte Anwälte ohne dezentrale Kanzleien, denn nur ausreichend viele Anwälte im ganzen Land ermöglichen den Zugang zum Recht. „Um diesem Trend entgegenzuwirken, müssen bereits während des Studiums stärker die Perspektiven in der Heimat aufgezeigt werden, auch wenn sich diese außerhalb der großen Ballungszentren befinden, etwa durch Praktika und entsprechende Stationen im Referendariat“, meint Fuhrmann. Ebenso könnte es helfen, das Studium etwa durch den integrierten Bachelor, wie ihn bereits einige Universitäten eingeführt haben, attraktiver zu machen. „Schon in Schülerpraktika sollten wir für den Anwaltsberuf werben, denn das sind die Studenten von morgen und die Anwälte von übermorgen.“
Ökonomische Zusammenhänge erkennen
Noch allerdings sind die sich abzeichnenden Entwicklungen nicht in allen Kanzleien zu spüren. „Natürlich ist es ein enger Markt und wird es auch auch bleiben“, räumt etwa Christoph Barth ein, der als Partner bei Linklaters nationale und internationale Mandanten im Bereich Kartellrecht und Investitionskontrolle betreut und für People-Themen in Deutschland verantwortlich ist. „Um den Trend und die Entwicklung von der Pyramiden- zur Raketenstruktur, wissen wir ebenfalls. Bislang verzeichnen wir aber noch keine wesentlichen Veränderungen.“ Linklaters setzt vor allem auf die Einstellung von bereits bekannten Referendaren. „Dabei sind bei uns die Examensnoten nicht immer entscheidend, wichtiger ist hingegen, ob jemand mandantentauglich ist und ökonomische Zusammenhänge erkennt“, unterstreicht Barth. „Dadurch, dass wir diese Juristen bereits kennen, wissen wir außerdem, wie sie sich ins Team einfügen.“ Außerdem sollte angesichts des demografischen Wandels und steigenden Zahlen bildungsferner Hintergründe eine größere Durchdringung des Jurastudiums in allen Bevölkerungsteilen angestrebt werden. „Wir unterstützen zum Beispiel die Initiative ‚Arbeiterkind‘ für alle, die als Erste in ihrer Familie studieren“, so Barth. Schließlich beziehe sich Diversität nicht nur auf Gender, sondern ebenso auf den Bildungs- und ethnischen Hintergrund. Zudem könnte die sich aufgrund der Digitalisierung verschlankende Basis und einem damit verbundenen sinkenden Bedarf an jungen Juristen die Situation entschärfen. „Für die Spitze gilt das jedoch nicht.“ Aber auch bildungspolitisch gibt es nach Ansicht von Barth Veränderungsbedarf: „Die Zahl der Referendariatsplätze zu reduzieren, führt zu langen Wartezeiten und könnte ein abschreckendes Kriterium und damit ein falsches Signal sein. Zudem sollten die Ausbildungsinhalte angesichts des sich verändernden Berufsbildes etwas praxisnäher gestaltet werden, insbesondere mit Blick auf kaufmännische und digitale Themen. Das digitale Examen ist hier ein positives Beispiel.“ Ähnlich ist es bei DLA Piper. „Wir setzen darauf, unseren Nachwuchs bereits so früh wie möglich kennenzulernen“, berichtet Nadine Kirch, Personalleiterin für Deutschland, Österreich und die Slowakei bei DLA Piper in Frankfurt. „Dazu bieten wir für Studierende ab dem dritten Semester eine Spring- und eine Summer-School mit einem sechswöchigen Praktikum an.“ Das Referendariat kann nicht nur im In-, sondern auch im Ausland absolviert werden. „Der Vorteil ist, dass wir uns dadurch einen Talent Pool mit derzeit 700 Mitgliedern aufgebaut haben“, betont Kirch. „Dadurch konnten wir die Fluktuation von 25 bereits auf zwölf und zuletzt auf acht Prozent senken.“ Gearbeitet werden müsse zwar weiterhin viel, aber die Gestaltung der Arbeitszeit sei im Vergleich zur Vergangenheit viel flexibler geworden. „Während Unternehmen zum Teil wieder stark auf Präsenz setzen, können unsere Mitarbeiter beispielsweise bis zu fünf Tage pro Woche von einem anderen Ort arbeiten“, berichtet die Personalleiterin. Außerdem erfolge die Beurteilung viel stärker über Ergebnisse als über Präsenz. „On top ist bei uns eine Workation von bis zu 30 Tagen möglich.“ Ebenfalls gefördert werden duale Karrieren. „Weil immer mehr Paare sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern wollen, ermöglichen wir es beiden, etwa 80 Prozent zu arbeiten“, so Kirch. Hinzu kommen eine Elternberatung, individuelle Lösungen und eigene Krippenplätze. Zudem sind die Karrierewege vielfältiger geworden. „Es ist weniger als früher das Ziel, erst Counsel und dann Partner zu werden“, so Kirch. Deshalb gebe es neben der klassischen Karriereentwicklung zum Partner auch die Möglichkeit, sich als Spezialist oder Leverage Counsel zu entwickeln. Und auch beim Studium unterstützt die Kanzlei als Förderer des Jura-Stipendiums der Bucerius Law School bis zu fünf Abiturienten pro Jahr. Dadurch wird Schülern aus nichtakademischem Elternhaus ein Jura-Studium ermöglicht. „Wir wollen möglichst früh Talente für Jura und für unsere Kanzlei begeistern.“ All das soll dazu beitragen, den steigenden Bedarf an Nachwuchsjuristen zu decken.
„Wir haben in der Rechtsabteilung etliche Stellen aufgebaut.“
Volkhard Pfaff
General Counsel, Panasonic
Arbeit in der Rechtsabteilung
Bei Panasonic beobachtet Volkhard Pfaff signifikante Unterschiede: „In den vergangenen fünf bis sieben Jahren ist, abgesehen von Schwankungen, die Zahl der Bewerber gesunken“, sagt der General Counsel. „Früher hatten wir für eine in-house-legal Position und einem unbefristeten Vertrag mit klassischer Anstellung mindestens 30 bis 40 Bewerbungen, heute sind es zum Teil nur noch zehn.“ Bisher habe er alle Stellen gut besetzen können, „aber wenn die Erstkandidaten abgesprungen wären, hätte uns das vor ein Problem gestellt.“ Auch bei Panasonic wurden – das richtige Mindset vorausgesetzt – die „Anforderungen an die faktischen Gegebenheiten angepasst“, sodass inzwischen die Examensnoten an Bedeutung verlieren. Schließlich hat der Konzern Bedarf: „Wir haben in der Rechtsabteilung etliche Stellen aufgebaut, nicht weil das Geschäft so stark gewachsen ist, sondern aufgrund des steigenden Rechtsberatungsbedarf sinsbesondere aufgrund der EU-Regulatorik. „Beispielsweise haben wir eine Vollzeitstelle allein für das Thema Lieferkette und Supply Chain Compliance neu geschaffen“, so Pfaff. Um für die Nachwuchsjuristen attraktiv zu sein, investiert Panasonic stark in die Mitarbeiterqualifikation. „Wir schnüren attraktive Pakete, etwa durch extrem flexibles Arbeiten aus dem Homeoffice, aber auch aus dem Ausland“, berichtet Pfaff. „Wenn den Kandidaten noch Erfahrung fehlt, sind auch Sonderinvestitionen möglich, zum Beispiel durch die Arbeit an einem englischsprachigen Standort und Seminare zu Spezialthemen.“ Die oft geäußerte Kritik an der Juristenausbildung teilt er jedoch nicht. „Ich halte es für wichtig, das gesamte Rechtssystem zu verstehen, die Spezialisierung kann später schnell im Job erfolgen“, so der General Counsel. „Was uns aber hilft, ist herauszufiltern, welche Aufgaben ein klassischer Volljurist und welche ein Wirtschaftsjurist übernehmen kann. Etliche der Wirtschaftsjuristen sind praxisorientierter und haben ein ausgeprägtes Verständnis für Prozesse und wirtschaftliche Zusammenhänge.“ Einen Mangel befürchtet Pfaff nicht, eher sieht er die Herausforderung, gute Juristen zu finden. ■ Claudia Behrend